Der Schnupfen – Gedicht von Christian Morgenstern, kommentiert und übersetzt

Letzte Aktualisierung: 29.09.2023auf Spanisch lesen

 

 

Morgenstern: Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse

Der Schnupfen – Gedicht von Christian Morgenstern

 

Der Schnupfen

Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf dass er sich ein Opfer fasse

– und stürzt alsbald mit großem Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.

Paul Schrimm erwidert prompt: „Pitschü!“
und hat ihn drauf bis Montag früh.

 

Obwohl es schwierig ist, fremdsprachige Gedichte zu lesen und zu verstehen, möchten wir hier ein Gedicht vom deutschen Dichter, Schriftsteller und Übersetzer Christian Morgenstern vorstellen. Wenn du bereits fortgeschrittene Deutsch-Kenntnisse besitzt (B2-C2), bereitet es  dir wahrscheinlich keine großen Verständnisprobleme.

Morgenstern lebte von 1871 bis 1914, und ist besonders durch seine Galgenlieder (Canciones desde la horca) bekannt geworden: eine Sammlung ’surrealistischer‘ Gedichte voller Wortspiele und Humor. Die scheinbar absurden Kreationen geben Anstoß zu tiefgehenden Überlegungen.

Wir verwenden den Begriff ’surrealistisch‘ hier in Anführungszeichen, weil es eine Literaturströmung dieses Namens zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht gab: Morgenstern ist ein Avantgardist dessen, was später als Dadaismus oder Surrealismus bekannt wurde.

„Der Schnupfen“ ist ein typisches Beispiel der meistbekannten Lyrik des Dichters, obwohl er natürlich auch ‚ernste‘  Werke verfasste, als Übersetzer arbeitete und diverse Zeitschriften herausgab.
Das vorliegende Gedicht gehört zur Sammlung „Der Gingganz“, und wurde erst 1919, nach seinem Tod, veröffentlicht.

Morgenstern amüsiert sich und uns, indem er in seinen Versen den Dingen Leben einhaucht oder Begriffe personifiziert; er erfindet neue Ausdrücke, wobei er mit Worten, Lauten und Begriffen spielt, mit Paradoxen, Bildern und Konzepten. Er erschafft dabei scheinbar widersinnige, absurde Situationen, die uns mit einem Augenzwinkern sein zwar kritisches, aber doch humorvolles philosophisches Weltbild übermitteln.

Dieses Gedicht haben wir gewählt, weil es relativ einfach zu verstehen ist: es stellt keine zu hohen Anforderungen, weder vokabelmäßig noch syntaktisch, und ist auch nicht zu lang.
Hier erklären wir dir die schwierigsten Ausdrücke:

 

der Schnupfen,-
= eine Erkältung, bei der man nicht gut durch die Nase atmen kann.
Man niest und muss sich die Nase putzen.
einen Schnupfen haben = eine laufende Nase haben

hocken
= in der Hocke sitzen; auf den eigenen Beinen sitzen.
Hier hat es die Konnotation versteckt warten oder lauern

auf dass (+ Konjunktiv) (veralteter Ausdruck)
= damit; mit der Absicht/dem Zweck, etwas zu tun; um etwas zu tun

alsbald (veraltet)
= bald; nach kurzer Zeit; sogleich; so bald wie möglich

der Grimm (veraltet)
= die Wut; mit großem Grimm = mit boshafter Energie

auf jemanden stürzen
hier für: sich auf jemanden stürzen = jemanden überfallen

namens
= mit dem Namen

prompt
= sofort

erwidern
= antworten, reagieren

drauf (verkürzt für darauf)
= daraufhin; dann; danach

 

Warum ist es so schwierig,
fremdsprachige Gedichte zu verstehen?

 

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die das Verständnis fremdsprachiger Poesie erschweren:

  • Im Allgemeinen ist die Wortwahl in lyrischen Texten viel diffenzierter als in in der ’normalen‘ Sprache: die verwendeten Ausdrücke und Strukturen  sind häufig ungewöhnlich, veraltet oder sogar -wie es in Morgensterns Gedichten oft der Fall ist- originelle Wortschöpfungen eigens für das jeweilige Werk.
  • Die Satzstruktur entspricht nicht dem üblichen Muster.
    Ein Poem lebt von Reim und  Rhythmus: damit die Verse melodisch klingen, ist es meist notwendig, die Worte / Satzteile in eine ungebräuchliche Reihenfolge zu bringen, Ohne diese ‚dichterische Freiheit‘ ist es fast unmöglich, den Text einer bestimmten ‚Form‘ anzupassen (Reim und Reimschema, Versmaß/Silbenzahl, Betonung, …).
  • In den meisten Gedichten -nicht nur den surrealistischen oder humoristischen- wird mit den Worten ‚gespielt‘: die Anspielungen und Konnotationen, die dabei in den Text einfließen, sind nur dann zu verstehen, wenn man die kulturellen Hintergründe kennt.
  • Gedichte sind meist sehr ‚dichte‘ Texte: der Inhalt wird nicht nur konzentriert dargestellt, sondern enthält außer der vordergründigen Thematik meist auch weitere Interpretationsebenen.

 

Noch schwieriger wird es, wenn man versucht, ein Gedicht ‚korrekt‘ in eine andere Sprache zu übersetzen.
Es ist schon kompliziert genug, mit größtmöglicher Übereinstimmung den Inhalt samt enthaltener Anspielungen zu übertragen und dabei den Originalstil nachzuahmen.
Will man gleichzeitig auch noch die lyrische Form beibehalten, also auch Rhythmus und Reimschema reproduzieren, ist es eigentlich ein fast unmögliches Vorhaben.

Die rhetorischen Mittel sind auch nicht in allen Sprachen gleich.
Das vorliegende Gedicht setzt ein Stilmittel ein, das den germanischen Sprachen eigen und im Spanischen kaum bekannt ist, nämlich den Stabreim. Dessen moderner Gebrauch besteht darin, innerhalb eines Verses/Satzes mehrere Wörter mit demselben Anfangslaut (Konsonant) zu verwenden, eine Wiederholung, die dem deutschen Gehör als signifikativ und angenehm auffällt.
Hier finden wir ihn als Häufung von p’s in der Zeile ‚Paul Schrimm erwidert prompt: „Pitschü!“‚, eine gelungene Lautmalerei, die einen explosiven Niesanfall nachahmt.
Normalerweise wird das Niesgeräusch im Deutschen onomatopoetisch mit „Hatschi!“ wiedergegeben; Morgenstern jedoch erfindet sein eigenes ‚Lautbild‘, „pitschü“, nicht nur des Reimes und des Stabreims willen sondern auch, um den gewünschten Anklang an eine Erkältung zu verstärken.  Ebenfalls sind im Verlauf des Gedichtes viele ’sch‘-Laute zu hören, die vorzüglich zu einem Schnupfen passen: Schnupfen, stürzt, Menschen, Schrimm, pitschü.

Nie schafft man es, ein fremdsprachiges Gedicht originalgetreu wiederzugeben, denn jede Sprache ist ein Universum für sich, und in jeder ruft ein bestimmter Begriff unterschiedliche Konnotationen hervor. Abgesehen davon ist auch jeder einzelne Dichter eine Welt für sich, mit seinen jeweiligen Gemütsverfassungen, Idealen, Erlebnissen, …
Man muss die Originalsprache sehr gut beherrschen, um die mitschwingenden Konzepte und Anspielungen zu erfassen, die während des kreativen Prozesses in eine sprachliche Schöpfung einfließen.

Morgenstern selbst, der die Werke des Norwegers Ibsen ins Deutsche übersetzte, meinte dazu: „Man kann nicht von guten und besseren, sondern nur von schlechten und weniger schlechten Übertragungen fremder Poesie sprechen.“

Hier noch unser Versuch, Morgensterns Gedicht ins Spanische zu übertragen (Übersetzung von reflejarte·es):

El catarro

Un vil catarro busca caza
agazapado en la terraza,

y pronto asalta con furor
a un hombre que se llama Sor.

Juan Sor responde raudo: „¡Achunes!“
y ya lo tiene hasta el lunes.

Rechte der Übersetzung: reflejarte.es/DeutschamStrand

 

 

 

 

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