Militärgeschichte.
Zu Geschichte und Problemen einer Disziplin der Geschichtswissenschaft (1952-1967)

Wappen MGFA FreiburgProf.em.Dr.Rainer Wohlfeil:

Militärgeschichte. 

Zu Geschichte und Problemen einer Disziplin der Geschichtswissenschaft

(1952 – 1967)

– Für Gerhard Papke –

Am 21. Januar 1970 wandte sich der Unterabteilungsleiter Fü S VII des Bundesministers für Verteidigung an dessen Parlamentarischen Staatssekretär mit einer ‚Anregung‘1 für die neu anstehende Entscheidung über Auftrag und Struktur des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes2. Es wäre zu berücksichtigen, wel­che Folgen es zeiti­gen könne, wenn das MGFA die angelaufene Gesamtdarstellung der Geschichte des Zweiten Welt­krieges gemäß der Konzeption durchführen sollte, die sein erster, inzwischen aus dem Bun­desdienst ausgeschie­dener Leitender Historiker, Professor Dr. Andreas Hillgruber, am 11. Oktober 1968 dem Amts­chef MGFA vorgelegt3 und am 25. Juni 1969 seinem Bericht an den Staatssekretär über Erfah­rungen im MGFA beigefügt hatte4. Seine Konzeption hatte Hillgruber auf den Nenner gebracht: „Leitender Gesichtspunkt … ist die Einsicht, daß eine Gesamtdarstellung der Geschichte des Zweiten Welt­krieges ein Thema der politischen Geschichte ist und daß die militär- und kriegsgeschichtlichen Partien und Aspekte – so wichtig sie sind und welch breiten Raum sie innerhalb der Darstellung auch einnehmen wür­den – in einen von der politischen Geschichte dieses Krieges vorgezeichneten Rahmen eingefügt werden müssen.“5

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svz  74 – bibliografische Information:
Rainer Wohlfeil:  Militärgeschichte.
Zu Geschichte und Problemen einerDisziplin der Geschichtswissenschaft (1952-1967)
,
in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 52, 1993, H. 2, 323-344
Für Gerhard Papke

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Diese Anregung, im Grunde eine Warnung an die Leitung des Ministeriums, ‚Militärgeschichte als ein Thema der politischen Geschichte‘ bearbeiten zu lassen, ist wohl mit dem damaligen Amtschef, Oberst i. G. Dr. Herbert Schottelius, diskutiert, dem vorgesehenen Nachfolger Hillgrubers als Leitender Historiker, Professor Dr. Rainer Wohlfeil, jedoch nicht einmal eröffnet worden. Sie sollte, wie aus der Aktenlage her­vorgeht, in eine für ihn bestimmte künftige Dienstanweisung ‚militärische‘ Vorstellungen einbringen, die den Begriff ‚Militärgeschichte‘ im Vergleich zur Konzeption Hillgrubers spürbar eingrenzten. Unterschrie­ben war die Vorlage von Brigadegeneral Friedrich, abgefaßt aller Wahrscheinlichkeit nach vom Referen­ten Fü S VII 2, dem Oberstleutnant i. G. Dr. Carl Hans Hermann – einem Historiker6.

Überraschender Weise begründete Hermann darin seine Vorstellung von Militärgeschichte nicht etwa aus einem eigenen Geschichtsverständnis7, sondern mit einer in der ‚Zeitschrift für Militärgeschichte‘ der DDR 1969, also gewissermaßen gerade rechtzeitig erschienenen marxistisch-leninistischen Analyse der soge­nannten reaktionären westdeutschen Militärgeschichte durch Gerhard Förster8. Hermann faßte den recht agressiven Inhalt mit folgenden Worten zusammen:

„In diesem sehr ausführlichen Beitrag der maßgebenden Fachzeitschrift der DDR werden die Publikatio­nen unsrer profilierten Militärhistoriker einer politischen Analyse unterzogen. Gleichgültig, was immer in unserem Landes (sic!) zur Zielsetzung militärgeschichtlicher Forschung geschrieben wurde – kein Name fehlt – es wird gebrandmarkt als

 

– Beginn einer neuen Qualität der reaktionären westdeutschen Weltkriegsgeschichtsschreibung, deren We­sensinhalt die uneingeschränkte Orientierung auf die extremistischsten Kreise der Bundesrepublik Deutsch­land sei,

– als reaktionäre Politisierung der offiziellen Militärgeschichtsschreibung und Ruck nach rechts, eine An­nähe­rung an neonazistische Methoden mit dem Instrumentarium der geistigen Manipulierung der Bevölke­rung und der psychologischen Kriegführung,

– als Suche nach Lehren für die gegenwärtige und künftige imperialistische Politik Bonns sowie ihrer pro­gno­stischen Vorbereitung,

– als Verschärfung des innen- und außenpolitischen Kurses der aggressivsten Kräfte des deutschen Impe­ria­lismus und Militarismus.“

Aus diesen heute fast naiv-humoristisch anmutenden Angriffen – der Originaltext war dem Schreiben von Fü S VII in Kopie beigefügt – wurde als Schluß gezogen: „Sollte dieser (= Hillgrubers, d.V.) Vorstellung entsprochen werden, würde der Ostblock mit dem Vorwurf antworten, nun sei der schrankenlose Milita­rismus in der Bundesrepublik Deutschland offenkundig, denn jetzt usurpiere die Bundeswehr ein wissen­schaftliches Thema, für das sie gar nicht zuständig sei…. Fraglos muß die deutsche historische Forschung – auch die der Bundeswehr – sich ständig mit der DDR auseinandersetzen. Feld für die literarische Diskus­sion des MGFA ist aber nur die Militärgeschichte“ – das hieß genau besehen die althergebrachte Kriegsge­schichte.

Letztere Aufgabenstellung im Sinne aktiven Tätigwerdens hat es für das MGFA, das sei nebenbei ange­merkt, offenkundig nicht gegeben, vielmehr wurde vor­nehmlich ‚reagiert‘ – eine Aussage, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann, die sich aber als These aus entsprechender Verhaltens­weise erschlie­ßen läßt9.

Mit diesem einen Beispiel aus dem Jahre 1969/70 ist die Problematik, d. h. der umstrittene wissenschaftli­che Standort des MGFA in den ersten anderthalb Jahrzehnten seines Bestehens eindeutig skizziert. Es ging kurz gesagt um die Frage, was ist Militärgeschichte erstens im allgemeinen geschichtswissenschaftlichen Konsens und zweitens als Aufgabengebiet des MGFA. Die Diskussionen um diese Themen in Wort und Schrift liefen bereits seit Anfang der 50er Jahre innerhalb und außerhalb der die Aufstellung deutscher Streitkräfte vorbereiten­den ‚Dienststelle Blank‘ unter we­sentlicher Anteilnahme des späteren ersten Amtschef des MGFA, Oberst i. G. Dr. Hans Meier-Welcker, seit 1955 federführend in dem von ihm gelei­te­ten Referat ‚Militärwis­senschaft‘ der Abteilung Streitkräfte (IV A 5, später Fü B III 4)10; be­teiligt wa­ren innerhalb der kleinen interessierten Öffentlichkeit auch vereinzelte Historiker11. Diese Erörterungen beeinflußten jedoch weder die Statik der Argumentation noch die Arbeit im Forschungsamt. Es hat in diesen Jahren im MGFA keine fortschrittliche wissenschaftliche Entwicklung gegeben, wie es immer wie­der gerne behauptet wird – etwa aus der geschichtswissenschaftlich unbedeutenden Kriegsgeschichte zu ei­ner zeitgemäßen sozialgeschichtlich orientierten Militärgeschichte. Wohl nur die Teamarbeit über ‚An­ciennität und Beförderung nach Leistung‘12 oder die Arbeit von Manfred Messerschmidt über das Of­fi­zierkorps13, alle aus dem Anfang der 60er Jahre, haben einen betont sozialgeschichtlichen Akzent. Das Gleiche gilt für das ‚Handbuch zur deutschen Militärgeschichte‘14, das ‚fachmilitärische‘ Fragen nur am Rande behandelt.

Das Charakteristikum dieser Jahre war also nicht stetig fortschreitende Entwicklung, sondern fortwährend gleichbleibende Spannung. Auf der einen Seite bestanden die Forderungen bestimmter militärischer Kreise und Institutionen, die Vergangenheit nach nützlichen Hilfen für die praktische Ausbildung und ‚innere Ausrichtung‘ der Soldaten, speziell der Offiziere, wissenschaftlich zu durchforsten. Auf der anderen Seite gab es das Bemühen des ersten Amtschefs, mit dem MGFA Militärgeschichte zu schreiben. Militärge­schichte schreiben hieß für ihn, er wollte im Gegensatz zur Kriegsgeschichte des Kaiserreiches und zur na­tionalsozialistischen Wehrgeschichte15 das Militär endlich als einen historischen Gegenstand behandelt und die Militärgeschichte als eine geschichtswissenschaftliche Disziplin anerkannt wissen. In der Auseinander­setzung mit dieser Militärgeschichte wollte er dem Militär helfen, seinen Standort zu bestimmen und sei­nen Aufgaben gewachsen zu sein.

Mit seinem Vorhaben entsprach Meier-Welcker zweifellos nicht den Plänen militärischer Führungs­stäbe, geriet damit – militärisch gesehen – auf ein Nebengleis, was sich auf seine ‚Karriere‘ auswirkte. Es ist ihm jedoch gelungen, in den acht Jahren seiner Zeit als Amtschef – 1964 wurde er pensioniert – ein Fun­dament zu legen, auf dem die Arbeit im MGFA der folgenden Jahrzehnte fußen konnte. Die eingangs er­wähnte Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der großangelegten Reihe ‚Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg‘16 ist – um ein Beipiel zu benennen – in seiner Konzeption ohne das unbeirrbare Wissen­schafts­verständnis des ersten Amtschefs undenkbar.

Die Diskussion, die sich in den Jahren bis etwa 1967 um diese Fragen abspielte, ist naturgemäß nur in Bruchstücken aus den Veröffentlichungen oder aus Akten zu analysieren. Eine durchdachte Konzep­tion ist einzig beim ersten Amtschef zu erschließen, nicht auf der Gegenseite. Die überlieferte, geradlinige, durchdachte Argumentation Meier-Welckers läßt erkennen, was er unter Forschung, aber auch unter Lehre in der Militärgeschichte verstanden wissen wollte.

 

Die folgende Behandlung der Fragen nach Wesen und Verständnis, Erkenntnisziel und Zweck und damit nach dem wissenschaftlichen Standort und nach dem Gegenstand, nach der Methode und nach den For­schungsansätzen, nach den Aufgaben und nach der Sinngebung geschichtswissenschaftlicher Forschung, wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und didaktisch fruchtbarer Lehre der Militärgeschichte gliedere ich in folgender Weise:

I Wehrgeschichte – Kriegsgeschichte – Militärgeschichte

II Militärgeschichte als Teil der Geschichtswissenschaft und Forschungsgegenstand – Bestimmung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

III Militärgeschichte als Lehre – Innerer und praktischer Nutzen

IV Abschließende Reflektionen

 

I

Daß für die überwiegende Mehrzahl der Historiker im MGFA die wesentliche Zielsetzung ihrer Arbeit im geschichtswissenschaftlichen Auf­trag bestand, sich der Militärgeschichte in Forschung und Darstellung zu widmen, war um 1970 unbe­stritten – erneut jedoch die Frage aufgeworfen worden, was unter Militärge­schichte zu verstehen sei. Aus Hillgru­bers Sicht wurden 1968/69 im MGFA zwei divergierende Auffas­sungen von Militärgeschichte vertreten – einer­seits seine im Verständnis eines Teiles der politischen Ge­schichte, andererseits „eine we­sentlich engere, rein fachbezogene“17. Im militärischen Bereich fanden je­doch zugleich weiterhin die Begriffe ‚Wehrgeschichte‘ und ‚Kriegsgeschichte‘ Verwendung.

Für die geschichtswissenschaftliche Forschung und Lehre in der Bundeswehr war es von grundlegender Be­deutung gewesen, daß mit dem Aufstellungsbefehl vom 5. Juli 1956 für die Militärgeschichtliche For­schungs­stelle, die ab 13. Januar 1958 die Bezeichnung Militärgeschichtliches Forschungsamt führte, eine – heute wie selbstverständ­lich erscheinende – Entscheidung zugunsten einer Zusammenfassung der einschlä­gigen Arbeitsfelder für alle Teilstreitkräfte in einem ‚geschichtlichen Dienst‘ gefallen war – damals eine im Ver­gleich zu analogen Institutio­nen anderer Staaten höchst moderne Lösung18. In der Binnenstruktur des MGFA blieb allerdings mit der Glie­derung in Abteilungen entsprechend der Teilstreitkräfte das überlie­ferte Denken erhalten19.

In die Bezeichnungen für die Binnenstruktur des MGFA war auch der Terminus ‚Allgemeine Wehrge­schichte‘ aufgenommen worden, nachdem ihn auch Meier-Welcker noch in seinen ersten Formulierungen und Veröf­fentlichungen benutzt hatte20, begriffen seinerseits aber schon im Verständnis von Militärge­schichte; danach schwand er aus dessen Sprachgebrauch. Obgleich Gerhard Papke den Begriff 1961 pro­blematisiert hatte21, wurde er zum Beispiel von Her­mann Heidegger als einem Mitarbeiter des MGFA weiterhin benutzt22. Er verlor seinen ‚Reiz‘ auch nicht, nachdem 1967 Rainer Wohlfeil aufge­zeigt hatte, wie sehr er durch seine Nut­zung in der NS-Zeit ideolo­gisch-programmatisch belastet war23: Als eine Art militaristischer Auffassung von Geschichte zielte eine weg­weisende Konzeption der Wehrgeschichte letzt­endlich darauf ab, die Geschichts­wissenschaft neu zu orientie­ren, und zwar auf eine vom ‚Wehrden­ken‘ her bestimmte und auf das ‚Wehrwe­sen‘ hin ausgerichtete politi­sche Geschichte. Dennoch wurde und wird der Begriff weiterhin, wenn auch meist wohl unreflektiert hinsicht­lich des ihm verbundenen Be­zugsystems benutzt, beispielsweise 1969 vom dritten Amtschef des MGFA24 oder 1971 in gewissermaßen demon­strativer Selbstverständlichkeit von Paul Hein­sius25, ‚legitimiert‘ nicht zuletzt dadurch, daß er für den Aufga­benbereich der Lehrer in Militär- und Kriegsge­schichte an den Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr als Oberbegriff im Gebrauch ist26 und daß das seit 1963 unter der fachlichen Leitung des MGFA stehende ehema­lige Historische Museum Schloß Rastatt27 in Wehrge­schichtliches Museum um­benannt wurde. Damit ist als erstes Analyseergebnis festzuhalten, daß es im Bereich der Bundeswehr keine einheitliche, gar in einem reflektierten, bewußt benannten Bezugssystem theoretisch fundierte Ter­minologie für ge­schichtswissenschaftliche Tätigkeiten und Institutionen gab und gibt, wie bereits 1961 Papke28 und 1962 Albrecht Charisius29 vermerkt hatten. – Ähnli­ch verhält es sich mit den Begriffen Kriegswissenschaft, Wehrwissenschaft und Militär­wissenschaft. Die Anre­gung von Werner Gembruch, auf sie zu ver­zichten, weil eine besondere wissenschaftliche Disziplin dieser Art weder entwickelt worden ist noch über­haupt die Bedin­gungen für ihre Begründung gege­ben sind, wurde lange nicht aufgegrif­fen30 – sie zu diskutie­ren ist hier jedoch nicht meine Aufgabe.

Verwirrender erwies sich der Begriff Kriegsgeschichte31, weil ihm zwei Bedeutungen immanent sind, ohne daß sein jeweiliges Bezugssystem stets klar benannt wird – entweder als handlungsorientierte Erfah­rungslehre im Verständnis von ‚Kriegskunde‘32, die Kenntnisse über die Entwicklung der Kriegstheorie und -praxis ver­mit­telt und deren An­wendung in vergangenen Kriegen als Studienobjekt für den Offizier diente und einge­bracht wurde bei der militärischen Ausbildung33 , oder als geschichtswissenschaftliche Disziplin. Im letzteren Sinne enthält der Be­griff vor allem einen zweifachen Inhalt, einerseits die Ge­schichte des Kriegskunst, ande­rerseits die Geschichte der Kriege, und das heißt Militärgeschichte im Kriege. Um diese so begrifflich ver­schwommene Kriegsge­schichte und ihre Methoden entspann sich 1955 eine öffentliche Diskussion, die Meier-Welcker auf Anregung von General Heusinger in Gang brachte34 und in sie abermals 1956 im Wissen darum eingriff, daß der Histori­ker Geschichte um wissenschaftlicher Erkenntnisse halber betreibt, der Soldat sich dagegen ihr im allgemeinen „um der Nutzanwendung willen“ gewidmet hatte35.

Weniger problematisch erwies sich das Verständnis des Begriffs Militärgeschichte. Vor 1945 im deutschen Sprachbereich nicht verwandt, wurde er ab etwa 1954 im amtlichen Gebrauch herangezogen36, ohne daß er zunächst eine genauere Gegenstandsbestimmung erfuhr. Dieser wandten sich später vor allem Johann Christoph Allmayer-Beck37, Wolfgang v. Groote38 und Wohlfeil zu. Von Wohlfeil wurde herausgestellt, daß der Begriff Militärge­schichte zutreffend die historische Dis­ziplin be­zeichnet, die sich der Geschichte der be­waffneten Macht als eines institutionalisierten Faktors des gesell­schaft­lichen Lebens im Rah­men ei­nes Staats­ganzen widmet und unter diesem Aspekt eine Bestimmung des histori­schen Gegenstandes der Militärgeschichte vorgelegt39; För­ster hat sie sachlich und ohne Polemik im Zu­sam­menhang zitiert40, Manfred Messerschmidt zentrale Forschungsfelder aufgezeigt41. Mit der um­risse­nen Einordnung der Mili­tärge­schichte in die allge­meine Geschichts­wis­senschaft als eine ihrer Disziplinen lag damit für sie eine Be­griffsbe­schreibung vor. Auf sie haben sich bis hin­ein in die Ge­genwart militärgeschichtli­che Veröffent­li­chungen bezo­gen42.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Militärgeschichte als Wissenschaft im Bereich der Bundeswehr er­hielt von Anfang an ihr Bezugssy­stem in der allgemeinen Geschichtswissenschaft zugewiesen, innerhalb derer sie eine Disziplin werden sollte. Von Beginn an durch ihre Begründung auf die historisch-kritische Methode un­zweideutig als Wis­senschaft konstituiert, wurde für die militärgeschichtliche Forschung und Darstellung die überlieferte mili­tärische Vorstellung zurückgewiesen, daß nur oder zumindest vornehmlich der Soldat befähigt und daher legitimiert sei, sich auch ohne wissenschaftliche Ausbildung der sog. Kriegswissenschaft zu widmen. Die theoretische Grundlage der Militärgeschichte war das Konzept des Historismus, infolgedessen mußte sie sich später – wie generell die Geschichtswissenschaft – einem kriti­schen Nachdenken über den eigenen Standort stellen und offenbare Schwächen im methodologischen Be­reich reflektieren. Ihr Gegenstand wurde zunächst nicht klar in seinem Verhältnis zu anderen historischen Arbeitsfeldern abgegrenzt, vor­nehmlich je­doch als Geschichte der bewaffneten Macht in den Kontext po­litischer Geschichte eingeordnet, orientiert be­sonders an der historischen Befassung mit Ereignissen und Handlungsträgern. Im Verständnis eines Teiles der politischen Geschichte hat sie auch Hillgruber definiert, diskutabel im Zusammenhang mit seiner Konzeption für eine Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges, jedoch nicht zu akzeptieren im Sinne einer eigenständigen historischen Disziplin. Zum Zeitpunkt seiner Gegenstandsbestimmung lag be­reits dessen Beschreibung durch Wohlfeil vor – keinesfalls „eine wesentlich engere“ oder gar „rein fachbe­zogene“, sondern ausgerichtet an dem historischen Sachverhalt ‚Militär in Frieden und Krieg‘, begriffen in der Fülle und Komplexität seiner Erschei­nung. Im wissenschaftlichen Ver­fahren zunächst der historischen Methode im engeren Sinne verpflichtet, wurde die Militärgeschichte durch die Gegenstandsbestim­mung von 1967 offen auch für neue methodische An­sätze.

 

II

Das MGFA stand von vornherein vor der Aufgabe, durch seine Veröffentlichungen gegenüber Ge­schichtswissen­schaft und Öffentlichkeit nachzu­weisen, daß seine Ge­schichtsschreibung weder im Rahmen amtlicher Aufga­benstellung oder gar auf der Grundlage eines Auftrages aus der Bundeswehr irgendwie gearteten ‚Vorgaben‘ oder ‚höheren Eingriffen‘ unterlag noch als „moralisches Ausbildungsmittel“43 oder als ideolo­gisches Instrument verstanden wurde, son­dern sich über den für seine begründeten Aussagen verantwortli­chen jeweiligen Mitarbeiter in Tatsachen-, Bedeutungs- und Sinngehalt methodisch reflektiert erar­bei­teten und inter­subjektiv überprüfbaren Ergebnissen und Erkenntnissen nach dem Wissenschafts­verständnis der noch an den konstituierenden Normen und Maßstäben des Historismus orientierten allge­meinen Ge­schichtswissenschaft verpflichtet begriff. Ein derartiges Selbstver­ständnis haben – unbeschadet mancher Schwächen in der konkreten Arbeit – Meier-Welcker44 und Amtsan­gehörige45 unbeirrbar vertre­ten. Bei­spielhaft für die programmatischen Vorstellungen und Forderungen des ersten Amtschefs seien einige sei­ner Kernsätze zitiert:

 

„Wenn aber die Militärgeschichte ihre Aufgaben erfüllen soll, dann ist dies nur möglich, wenn sie die Höhe der wissenschaftlichen Arbeit der allgemeinen Geschichtswissenschaft gewinnt. Die Militär- und Kriegsge­schichte ist nur ein Teil der gesamten Geschichtswissenschaft, wenn sie auch mit ihrem Erfahrungsgut in besonderer Weise den Streitkräften zu dienen hat. Es darf aber keine Isolierung der Militärgeschichte ge­genüber der allgemeinen Geschichte geben, wie sie früher in Deutschland in gewisser Weise festzustellen ist, vielmehr hat die Wissen­schaft von der Militär- und Kriegsgeschichte eine spezifische Aufgabe inner­halb der allgemeinen Geschichte zu erfüllen und bedarf deren Erkenntnisse und Impulse für ihre beson­dere Bestimmung. Die Militärgeschichtli­che Forschungsstelle steht also als militärische Dienststelle ihrem Wesen nach im Bereich der Geschichtswissen­schaft und hat die Brücke zu schlagen einerseits von der Ge­schichte zum militärischen Leben und andererseits von den gegenwärtigen militärischen Interessen und Fragestellungen zur Wissenschaft. Die Methode ihrer Arbeit kommt von der allgemeinen Geschichtswis­senschaft her.“46

Die ersten Veröffentlichungen aus dem MGFA lassen erkennen, daß offenbar der unmittelbaren Bekun­dung der individuellen Verantwortlichkeit des Autors für seinen Text zunächst überlieferte militärische Vorstellungen vom Zurücktreten des Verfassers hinter die Institution entgegenstanden. Sie wurden jedoch bald überwunden, zumal Meier-Welcker sogar in Team-Arbeit einen „für die Freiheit der Forschung nicht ungefährlichen Vor­gang“47 sah. Aus derartigem Selbstverständnis von wissenschaftlicher Arbeit – abgelei­tet wohl auch aus Artikel 5 (3) GG – resultierte, daß das Problem sog. amtlicher Geschichtsschreibung als eine im Laufe der Zeit ge­wissermaßen von selbst gelöste Aufgabe angesehen werden konnte. Dennoch sah sich Meier-Welcker 1959 veranlaßt, im inner­dienstlichen Bereich zu formulieren: „Ganz grundsätzlich möchte ich nochmals sagen… Die Militärgeschichte muß heraus aus der früheren Isolierung im Geistesle­ben der Nation und der Ge­schichtswissenschaft, von der sie nur ein Teil ist. Eine propagandistische Orien­tierung der Militärge­schichte innerhalb der Bundeswehr oder gegenüber der Öffentlichkeit wäre aber der Tod der Militärge­schichte als Wissenschaft, weil sie mit dem We­sen und der Arbeitsweise der Wissen­schaft unvereinbar ist, die nur durch Leistung wirken kann.“48

Dieses Selbstverständnis beruhte auf einer Konzeption, die Verirrungen der jüngsten Vergan­genheit mit ihrer ‚Umwertung aller Werte‘ unzweideutig benannte und verwarf49, für wissen­schaftliche Lei­stungen und Überlie­ferung der älteren Vergangenheit unter streng kritischer Reflexion, beson­ders ihrer Schwächen, aufgeschlos­sen blieb50 und den Weg zum Neubeginn der Militärgeschichte nicht mehr im Bereich sog. Wehr- oder Kriegswissenschaft51 suchte, sondern zur historischen Disziplin wies und bahnte52. Sie vorge­legt und damit den theoretischen Standort zukünftiger Militärgeschichte bestimmt, öffentlich vertreten53 und gegen Widerstände im Bereich der Bundeswehr54 für das MGFA durchge­fochten zu haben, war und bleibt das Verdienst von Meier-Welcker55. Seine Standortbestimmung für das MGFA sollte m. E. bis heute nichts an progammatischer Bedeu­tung verloren haben:

 

„Ich nenne die Bestimmung des MGFA zusammenfassend: Geschichtliche Besinnung und militärgeschicht­liche Forschung. Die geschichtliche Besinnung ist eine ethische Verpflichtung. Angesichts der heutigen Betriebsam­keit brauchen wir auch im militärischen Bereich einen Ort, an dem man sich auf die Geschichte besinnt und sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Gedanken müssen erarbeitet und weitergegeben werden, die Geltung beanspruchen dürfen. Die geistige Tradition muß wachgehalten werden mit der Be­reitschaft, Legenden zu zerstören, Gültiges festzuhalten und Neues zu erfassen. Es muß immer die war­nende Stimme da sein, welche daran erinnert, daß in der militärischen Entwicklung zwar die materiellen Dinge ihre mächtige Forderung gel­tend machen, daß aber geistige und moralische Kräfte den Charakter und das Schicksal der bewaffneten Macht bestimmen.“56

 

III

Zum Zeitpunkt der Problematisierung des Begriffs ‚Militärgeschichte‘ und seines Gegenstandes hatten Veröffentlichungen von Mitarbeitern des MGFA schon lange zuvor empörte Stellungnahmen von Lesern hervorgerufen mit dem Vorwurf, daß durch sie nationale Traditionen beeinträchtigt oder gar zerstört, kei­nes­falls aber Leitbilder für Solda­ten geformt werden würden57, wurde aber auch noch 1970 von einem Of­fizier der Bundesma­rine kritisiert, daß an der Marine­schule in Flensburg Militärgeschichte „als rein mili­tär­fachliche Kriegsge­schichte gelehrt“58 worden sei. Hier kann auf die erstgenannte Kritik nicht weiter an­gegangen werden; der Unterricht in Militär- und Kriegsge­schichte an den Akademien und Schulen der Bundeswehr muß da­gegen insofern einbezogen werden, als das MGFA als „Mittler zwischen Forschung und Lehre“ zu dienen hatte und ihre militärischen Lehrer als mit ‚Geschichte‘ befaßte Soldaten durch das MGFA für ihre Auf­gaben ausgebildet bzw. in sie eingewiesen wurden und seitens des Amtes ihren Lehrstoff erhalten soll­ten59.

Die Gründung der Forschungsstelle hatte nicht zur Folge gehabt, daß über die Bezeichnung der Einrich­tung die Dis­kussion über das Wesen von Militärgeschichte abgeschlossen war. Den Kernpunkt der Ausein­andersetzun­gen bildete die Frage, was wird in der Bundeswehr unter Geschichte verstanden und in wel­cher Weise be­treiben ihre historischen Dienste Geschichtswissenschaft. In diesen Meinungsaustausch wurde die Öffent­lichkeit durch Meier-Welcker einbezogen60, aus ihr gingen aber auch Anstöße hervor61. Er wurde geführt einerseits über die analysierten Begriffe Wehr-, Kriegs- und Militärgeschichte, ande­rerseits in ei­nem Streit um das Pro­blem, welchen Nutzen erbringt vor allem die Kriegsgeschichte für den Soldaten.

An der Frage nach Zielsetzung und Nutzen dieses Unterrichts entzündete sich eine breitgefächerte Dis­kussion um Rolle und Bedeutung der Geschichte für die Streitkräfte, geführt vor allem vor der Aufstellung der Militär­geschichtlichen Forschungsstelle 1955/56 und nach dem Abschluß der Aufbauphase des Mili­tärge­schichtlichen Forschungsamtes um 1960/61 – nicht Werke wissenschaftlicher Geschichtsschreibung aus dem MGFA standen hier im Brennpunkt, sondern die Lehre in Militär- und Kriegsgeschichte62. Der Streit ging, auf den Nenner gebracht, um die Frage, ob und gege­benenfalls was kann der Soldat in welcher Weise aus der Geschichte lernen63, damit aber auch um Gegenstand und Methode.

Ebenso schwierig wie eine allgemein akzeptierte Begrifflichkeit durchzusetzen erwies sich die Aufgabe, eine Konzep­tion zur Bedeutung, Rolle und Auf­gabenstellung der Kriegsgeschichte im militärischen Bil­dungs- und Ausbildungs­bereich einzubringen. Vor allem für die Lehrinhalte und die Methode gab es kei­nen Entwurf aus einem Guß, nur einen Prozeß schrittweiser Neuorien­tierung64; er stieß auf Vorbehalte und Wider­spruch.

Im Zentrum der Überlegungen von Meier-Welcker zur Kriegsgeschichte stand die – offenkundig von Jacob Burckhardts skeptischen Reflexionen über den Bildungswert der Historie geprägte65 – Frage, welchen Nutzen die Beschäftigung mit ihr dem Soldaten einbringe und ob bzw. was er aus ihr lernen könne66. Als grundsätzlich verfehlte Betrachtungsweise bezeichnete er, Kriegsgeschichte ohne Einbindung in die Mili­tärgeschichte zu be­treiben67, und ebenso klar stellte er fest, daß Erfahrungen „im letzten weder gelehrt noch gelernt“ zu werden vermögen, sondern sich nur selbst erwerben ließen68. Nach seiner Auffassung „sollte man sich um die Ge­schichte bemühen, ohne ständig auf den unmittelbaren Nutzen zu sehen“69. Ge­schichte könne einzig als Bil­dungsfaktor wirksam werden. Dementsprechend bestritt er die Vorstellung, der Kriegsgeschichte eigne ein unmittelbarer Nutzen und Lehrwert, bezweifelte er, daß es sinnvoll sei, al­lein die Zeitgeschichte zu befragen70, und wertete die Schulung der Urteilsbildung für wichtiger als das Wissen einiger Lehrsätze71. Von Anfang an appellierte er zugleich generell an die Geschichtswissenschaft, die Militär- und Kriegsgeschichte als gleichbe­rechtigte Diszi­plin anzuerkennen72. Seine Auffassung verfe­stigte er ein Jahr später. Er verwies auf Gefah­ren, durch welche die Kriegsgeschichte als Wissen­schaft ge­fährdet werden könne – durch Dilettantismus und durch die Vorstellung, der Soldat wäre allein von Be­rufs wegen befähigt, sich mit militärischer Geschichte zu befassen73. Geboten sei dagegen, eine militär- und kriegs­geschichtliche Bildung zu erwerben, wobei Kriegsge­schichte nicht mehr anders gesehen und be­griffen wer­den könne „als in ihren weltweiten und komplexen Be­dingungen“74. Nicht zuletzt betonte er abermals, daß Kriegs­geschichte nicht isoliert, sondern nur im Kontext der Militärgeschichte behandelt werden dürfe75.

Meier-Welcker hatte sich in einer doppelten Frontstellung befunden, einerseits gegenüber denen, die Kriegs­geschichte – und damit auch Militärgeschichte – aus dem Kanon der militärischen Ausbildung strei­chen wollten, weil ihr angesichts der technischen Entwicklung kein Lehrwert mehr zugesprochen werden könne und ange­sichts zu vielen Unterrichtsstoffes Ausbildungsballast abgeworfen werden müsse76. Diese Stimmen bleiben hier unberücksichtigt, weil sie sich nicht durchgesetzt haben. Härter waren die Auseinan­dersetzungen mit denen, die sich der Kriegsgeschichte im Sinne der überlieferten applikatorischen Me­thode als „selbstarbeitendes“ bzw. angewandtes Lehrverfahren bedienen wollten, angeführt von Hermann Metz77. Generaloberst a. D. Hans Reinhardt, Vorsitzender der Gesellschaft für Wehrkunde, forderte au­ßerdem, es sei „für alle Fälle … wichtig, daß der Unterricht eng abgestimmt sein muß mit dem Unter­richt in Taktik und Strategie, dem er immer helfend an die Hand gehen sollte“78. Meier-Welcker setzte die­ser ersten Diskussion79 1956 zusammenfassend und zugleich mit wegweisender Ausrichtung zunächst einmal ein Ende80. Seine Stellungnahme hing mit seiner Be­arbeitung von Vorschriften und Richtlinien zu­sammen, die für den Unterricht in Militär- und Kriegsgeschichte ergingen81. Auch für die Lehre an den Offizier­schulen sah er die Arbeit mit Quellen als wesentlich an82.

Noch einmal betonte er die Gefahr, die in der Annahme liege, Kriegsgeschichte „ohne wissenschaftlich er­wor­bene Kenntnisse in der Geschichte“ im wesentlichen auf der Grundlage eigener militärischer Erfahrun­gen lehren zu können83. Die applikatorische Lehr-Methode, die er bereits in seiner ersten Veröffentlichung pro­blematisiert hatte84, qualifizierte er nunmehr als ‚umstritten‘85 und verwarf sie indirekt mit der Aus­sage, daß „angesichts der gesamten und besonders der jüngsten Entwicklung des Kriegswesens … die ge­schichtlichen Situationen mit allen ihren der Zeit zugehörenden Besonderheiten nicht mehr den Stoff ab(geben), um den militärischen Führer vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der praktischen Anwend­barkeit für die Gegenwart und Zukunft zu schulen“86. Dennoch bilde die Militär- und Kriegsgeschichte „die Grundlage für die Offizier­ausbildung“, weil die Gegenwart nicht ohne Kenntnisse der Vergangenheit zu verstehen sei. Außerdem ver­mitteln die Erfahrungen der Militär- und Kriegsgeschichte „mittelbar fruchtbare Lehren“, so den „festen Bo­den für die stets nur hypothetische Weiterentwicklung des Kriegs­wesens im Frieden“87. „Unersetzliche Lehr­werte“ aber lägen in der Erkenntnis der Elemente und aller Er­scheinungsweisen des Kriegsgeschehens, bei­spielhaft aufgelistet über einen Katalog von Unterrichtsthe­men88. Das Wesen des Krieges lasse sich in allen Zeitaltern studieren, wenn es in Materialien überliefert ist. Hauptaufgabe des kriegsgeschichtlichen Unterrichts sei jedoch, die Befähigung zu eigener Arbeit zu vermitteln, und insgesamt stehe und falle der Wert des Unter­richts mit der Persönlichkeit des Lehrers89.

Abgeschlossen war damit die Diskussion jedoch nicht. Vornehmlich gerichtet an die Lehrer für Militär- und Kriegsgeschichte90 erörterte Friedrich Forstmeier – später vierter Amtschef – 1959 den ‚Nutzen‘ von Geschichte, besonders von Militär- und Kriegsgeschichte: Der „eigentliche Gewinn“ bei ihrem Studium sei in der „Bereicherung der persönlichen Existenz, in der Erweiterung des Selbst durch Erkenntnis des – zu­letzt im Menschlichen Verhafteten – elementar Gleichen im Wandel der äußeren Bedingtheiten“ gegeben91. Gleichfalls 1959 regte die Schriftleitung der ‚Wehrkunde‘ nach einem Gespräch mit Generalinspekteur Heusinger an, sich erneut der Thematik zu widmen92. In seinem ersten Beitrag griff 1960 Meier-Welcker den Wert des ‚inneren‘ anstelle des ‚praktischen oder unmittelbaren Nutzens‘ auf, diskutiert im Kontext der „radikalen Wandlung im Kriegswesen“93 und ex­emplifiziert in einem zweiten 1961 anhand der Schlacht bei Tannenberg 191494: Taktische Studien anhand kriegsgeschichtlicher Vorgänge, also keine Ermittlung hi­storischer Sachverhalte, sondern Klä­rung gegenwärti­ger Probleme am geschichtlichen Stoff, stellten keine Kriegsgeschichte dar95. Weder aus der früheren noch aus der jüngsten Geschichte ließe sich praktischer Nutzen im überlieferten Sinne ziehen, daher sei eine Überbe­wertung der neuesten Geschichte, etwa die bevorzugte Behandlung des Zweiten Weltkriegs, nicht zu begrün­den. Unter ‚überliefertem Sinn‘ verstand Meier-Welcker die seinerseits bereits stark in Frage gestellte applika­torische Methode. Der „enge utilita­ristische Versuch, aus der vermeintlich nahe entsprechenden jüng­sten Ver­gangenheit unmittelbar prakti­sche Lehren in taktischer und operativer Hinsicht zu ziehen, (ist) heute verfehlter … denn je“96. Aus der Kriegsgeschichte könne der Soldat „nicht Praktiken für den einen oder ande­ren Fall“ erfahren, sondern lerne „sehen, erkennen und urteilen“97. Deshalb dürfe die Kriegsgeschichte nicht von der Militärgeschichte abgetrennt werden, sondern müsse in ihrem Rahmen und generell dem der allgemei­nen Ge­schichte über­haupt begriffen werden. Indem Kriegsgeschichte „Kenntnis vom Wesen des kriegeri­schen Ge­schehens“ vermittle, fördere sie ‚freies Sehen und Denken‘ und schule damit ‚Urteilsbildung‘ und ‚innere Si­cherheit‘. Durch Kriegsgeschichte könnten „Wesen und Elemente des Kriegsgeschehens“ kennen gelernt werden, „wie sie in wechselnden Formen zu allen Zeiten in Erscheinung getreten sind, aber doch immer wieder nur in ihrer historischen Besonderheit erkennbar und zu verstehen sind“98.

Meier-Welckers Beitrag zur Diskussion des Gesamtproblems ‚Lernen aus der Geschichte‘ fand Zustim­mung zu seiner These des ‚inneren Nutzens‘ ebenso wie zu seiner Forderung, auch die jüngste Vergan­genheit histo­risch n u r als Geschichte zu sehen und zu begreifen99, rief aber die Gegner ebenfalls auf den Plan. Ihre Auf­fas­sung trug prononciert Heidegger vor100. Auch er erkannte der Geschichte einen in­ne­ren Nutzen zu, darüber hinaus und vor allem aber qualifizierte er die Kriegsgeschichte als “ eine stete, praktischen Nutzen bringende Quelle der Vorbereitung und Belehrung für den Beruf“101; „b e v o r z u g – t e Beschäftigung mit der jüngsten Kriegsgeschichte“ erachtete er als „dringendes Gebot“102. Folgerichtig be­wertete er die applikatorische Me­thode als “ durchaus brauchbar“ für „die Erziehung“ des Offiziers „zu ei­nem verantwortungs- und entschei­dungsfreudigen Führer“103, womit er beflissentlich die ‚Lehren‘ aus der ‚Kriegsgeschichte‘ überging, die sich als Erkenntnis aus der Anwendung der applikatorischen Methode beispielsweise im Ersten Weltkrieg ziehen ließen. Zu intensive geistige Beschäftigung, die „Überfütterung mit Historie“, und die „übertriebene Intellektualisierung des Offizierkorps“ schwäche dage­gen die Befähi­gung zum Handeln und die Einsatzbereitschaft von Streitkräften104.

Daß in der Unterrichtspraxis angestrebt werden müsse, der Stoffülle zu begegnen, wurde von Forstmeier ein­geräumt, ihrer etwa durch Bevorzugung der jüngsten Vergangenheit Herr zu werden, jedoch abgelehnt, und die applikatorische Methode abermals als fragwürdiger denn je eingestuft105. Am schärfsten kritisiert wurde Heidegger von Papke106: Heidegger setze „den praktischen Nutzen als den selbstverständlichen und gar nicht zu diskutierenden Zweck der Kriegsgeschichte voraus und fragt lediglich, ob sie ‚heute noch‘ die­sen Zweck erfüllt“ – das sei eine These, die sich „aus einer grundsätzlich anderen Geschichtsauffassung ab­leitet“107. Hier offenbare sich im Vergleich mit Meier-Welcker „eine Antinomie, die ganz allgemein die heutige Auseinander­setzung um die Kriegsgeschichte beherrscht“108. Kriegsgeschichte werde aus militäri­scher Sicht und Überliefe­rung als „eine Art antiquierter Gegenwartskunde“ begriffen109. Auch Heideggers „Aversion gegen die ‚über­triebene Intellektualisierung'“ habe nichts mit dem ‚Sinn der Geschichte‘ zu tun, offenbare vielmehr analog zu seiner Geschichtsbetrachtung „ein althergebrachtes militärisches Denken, das sich gegen den Einbruch des historischen Denkens in seine Sphäre wehrt, und das ebenso althergebrachte Bemühen, dem Offizier seine Naivität zu bewahren, die zu der Forderung führen, auch unter den Zeichen der neuen Zeit im Kriegsge­schichtsunterricht möglichst an veraltete Vorstellungen anzuknüpfen.“110 Als Ergebnis seiner Analyse folgerte Papke, daß es keinen Kompromiß, sondern „nur die Alternativlösung: Kriegskunde oder Kriegsgeschichte“ geben könne111. Während Kriegsgeschichte ein Bildungsfaktor sei, die „nur dann etwas geben (könne), wenn sie als das begriffen wird, was sie ist – als Geschichte“112, handle es sich bei der Kriegskunde um den „ganzen Komplex der militärischen Erfahrungsauswertung und Vermitt­lung“113. Ihren Wert zu diskutieren, stehe nicht an, der „Streit um Nutzen und Nachteil der Kriegsge­schichte“ lasse sich „in eine pointierte Gegenüber­stellung zusammenraffen. Ist es das Ziel der Offizier­ausbildung einen möglichst vollkommenen Perfektionisten des Krieges zu schaffen, auf den man sich als Instrument verlassen kann, soweit es eben bei einem Instrument mög­lich ist, dann belaste man den Fah­nenjunker nicht mit Problemen, die seine angeschulte Sicherheit stören müs­sen, das heißt dann streiche man die Kriegsgeschichte aus dem Lehrplan und ersetze sie durch Kriegs­kunde. Glaubt man jedoch, daß der Offizier den Krieg geistig bewältigt haben sollte, den zu führen er bereit sein muß, daß also der Offi­zierberuf zu seinem Teil auch ein geistiger Beruf ist, dann muß man das Risiko ein­gehen, ihn an die Aus­einandersetzung mit dem Inhalt und dem Wesen seines Berufes heranzuführen. Dann öffne man ihm im Kriegsgeschichtsunterricht dazu den Weg.“114 Folgerichtiger ließ sich vom Boden einer Ge­schichtsauffas­sung, die theoretisch dem Konzept des Historismus verpflichtet ist, nicht argumentieren, um Sinn und We­sen von Kriegs- und Militärgeschichte zu bestimmen.

Daß zwei divergierende Konzeptionen zum Nutzen der Geschichte für die Bundeswehr bestanden, und dies besonders zu den Prinzipien ihrer Lehre, war offenkundig, und auch das Bemühen von Gerhard Göhler, die Diskussion zusammenfassend Wege und Möglichkeiten der Militär- und Kriegsgeschichte mit­tels einer Analyse des Nutzens und damit über eine philosophische Erfassung des Problems durch einen Neuansatz zu weisen115, fand kaum Widerhall. Diese Situation wertete 1965 Volkmar Regling als Nach­weis der Freiheit von Forschung und Lehre in der Bundes­wehr116 – eine These, mit der die Analyse der Problematisierung von Sinn und Wert der Kriegsgeschichte für Bildung und Ausbildung in der Bundes­wehr während des ersten Jahrzehnts ihrer ‚historischen Dienste‘ mit Zentrum im MGFA abgeschlossen werden soll.

 

IV

Die Aufgabe, eine neue Methode zu erarbeiten, hatte sich von Anfang an im Bereich des Kriegsge­schichtsunterrichts gestellt, weil das überlieferte, sog. ange­wandte Lehrverfahren der applikatorischen Methode umstritten war. Der Streit um die Nutzenfrage – ‚innerer‘ oder ‚praktischer‘ Nutzen, Bildung oder Ausbildung – war 1967 nicht beigelegt, auch wenn die Mehrheit der öffentlichen Diskutanten Aufga­ben, Inhalt und Ziel der Lehre nur vom Bildungswert der Geschichte her be­stimmt sehen wollten. Bei die­sen Erörterungen ging es – das sei ausdrücklich wiederholt – in erster Linie um die Lehre, nicht um die Forschung. Zugleich war es eine Diskussion, die offenbar kaum Notiz genommen hatte von der gleichzeiti­gen breiten pädagogischen und didaktischen Literatur in der ’nicht‘-militärischen Gesellschaft. In For­schung und Darstellung war dagegen wissenschaftlich begründete historische Erkenntnis im Kontext der allgemeinen Geschichtswissenschaft das unbestrittene Ziel. Durch diese Leistungen hatte sich die Militär­geschichte 1967 endgültig qualifiziert, als eine historische Disziplin anerkannt zu werden, bekundet nicht nur über ihre Standortbestimmung im Festvortrag des Staatssekretärs im BMVtdg, Professor Dr. Karl Carstens, anläßlich des zehnjährigen Bestehens des MGFA117, sondern auch durch die wachsende Bereit­schaft von Vertretern der allgemeinen Geschichtswissenschaft, einerseits mit dem MGFA zusammenzuar­beiten, und andererseits der Militärgeschichte aufgeschlossener als zuvor der Kriegsgeschichte zu begeg­nen. Durch seine Veröffentlichungen hatte das MGFA nachgewiesen, daß ohne geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit der bewaffneten Macht in Frieden und Krieg eine vergangene historische Wirklichkeit nur unzureichend analysiert, historisch erklärt und deutend begriffen werden kann.

Daß darüber hinaus die Militärgeschichte nicht nur als ein Arbeitsfeld verstanden werden muß, das direkt oder mittelbar im Dienste einer kritischen Darstellung der bewaffneten Macht steht, sondern daß sie auch Grundlagenforschung für andere wissenschaftliche Disziplinen erbringen kann, ließe sich am Beispiel der Konflikt- und Friedensforschung aufzeigen. Diese darf nicht eo ipso als eine ‚Anti‘-Militärgeschichte ein­gestuft und bewertet, sondern sollte hinsichtlich der Möglichkeiten wechselseitig befruchtender Zusam­menarbeit überprüft werden. Für meine eigenen Forschungen zum Problem ‚Frieden‘118 hat sich jeden­falls die vorangegangene vieljährige Beschäftigung mit der Militärgeschichte sowohl als Fundus als auch als Anregung erwiesen. Auf eingefahrenen Gleisen kann weitergefahren werden, jedoch sollte auch der Mut aufgebracht werden, neue Streckenführungen für die eigene Arbeitsbahn zu erproben. Damit hat sich die Militärgeschichte bisher m. K. nach meist sehr schwer getan, beispielsweise in der Rezeption sozialge­schichtlicher Fragestellungen oder quantitativer Methoden bzw. in der Auseinandersetzung mit der mar­xistischen Militärgeschichte oder mit der ‚Frankfurter Schule‘.

Geblieben sind auch die Spannungen zu Teilen der Bundeswehr, meist begründet in divergierenden Er­wartungshorizonten. So hatte die Bundeswehrführung dem ersten Amtschef keineswegs genau vorge­schrieben, was das MGFA zu erarbeiten habe. Sie sah in ihm durchaus den Fachmann, von dem es zu­sammen mit seinen Mitarbeitern geschichtswissenschaftlich fundierte Aussagen erwartete und erhielt. Die Differenzen entzündeten sich eher an dem Wunsch nach Applikation, d. h. nach der Anwendung der hi­storischen Forschungserkennt­nisse und -ergebnisse einerseits in der Ausbildung, andererseits auch zugun­sten des Selbstwertgefühls der Streitkräfte nach innen und ihrer Rechtfertigung nach außen. Nur selten und dann auch nur zögernd kann jedoch die Geschichtswissenschaft Errungenschaften oder auch Wünsche und Ideologien der Gegenwart aus der Vergangenheit als richtig bestätigen.

Für diesen Sachverhalt möchte ich abschließend – neben manchen Mißhelligkeiten und Verärgerungen, die im bundeswehrinternen Rahmen blieben – einen Problemkreis reflektieren, der auch in der inter­essierten Öffentlichkeit Diskussionen hervorrief – das Verhältnis von militärischer Tradition und Militärge­schichte.

Anfang der 60er Jahre wurde in militärischen Kreisen der Ruf nach einer offiziell geförderten und damit gewissermaßen geschützten militärischen Tradition hörbar. Wurden Angehörige der Bundeswehr in bunter Mischung gefragt, was eine solche Tradition beinhalten solle, kam fast stereotyp die Antwort: Erhaltung bewährter soldatischer Tugenden. Diese Vorstellungen und entsprechende Forderungen führten jedoch in der öffentlichen Meinung zu der Vermutung, daß sich hinter solchem, im Grunde ehrenwerten Bestreben ein moralpolitischer Anspruch verbarg, der die Streitkräfte allgemein aus den politischen Irrungen und Wirrungen aller Zeiten, also auch oder sogar besonders der NS-Zeit, herauszulösen versuchte und darüber hinaus für die Ge­genwart eine militärisch-uniforme Eigenständigkeit gegenüber der ‚zivilen‘, d. h. der bür­gerlichen Welt ab­grenzte. Militärische Tradition konnte sich demnach zu einem Argument gegen den ‚Bür­ger in Uniform‘ auswirken.

Um solche leicht ausufernden Strömungen in der Bundeswehr in erträglichen Bahnen zu halten, sollte ein Traditionserlaß bestimmen, was traditionswürdig sei. Da es sich bei der Tradition offensichtlich um eine Beziehung zur Vergangenheit handelt, erwartete die Bundeswehrführung vom MGFA Unterstützung, wis­senschaftliche Mitarbeit und damit letztendlich eine Art von Beglaubigung. Meier-Welcker hat dieser For­derung widerstanden und seine Haltung mündlich wie schriftlich begründet. Er konnte sich dabei auf Uni­versitätshistoriker berufen, die seiner Auffassung zustimmten, wie Gerhard Ritter, Theodor Schieder, Percy Ernst Schramm oder Werner Conze, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen. Trotzdem hat seine Verweigerung der Reputation des MGFA bundeswehrintern sehr geschadet und ihm in den Streit­kräften den Ruf eingetragen, ein verbissener Traditionsgegner zu sein.

Das war ein Fehlschluß: Jede menschliche Vereinigung bildet über kurz oder lang Tradition und auch der (Militär-) Historiker steht bewußt oder unreflektiert in Traditionen. Über Tradition selbst ist also nicht zu streiten, jedoch über ihre Inhalte können die Meinungen erheblich aufeinanderprallen. Niemand kann der Bundeswehr verübeln, wenn sie sich traditionell auf ihre Herkunft aus der frühen Bundesrepubik besinnt. Schon bei der Wahl von Leitbildern aus der Wehrmacht erheben sich aber schwer zu beseitigende Zweifel. Personen oder Ereignisse aus früheren Epochen als aus der NS-Zeit sind eher akzeptabel, zumal man vor­nehmlich Gutes von ihnen überliefert weiß, etwa von Scharnhorst oder Clausewitz. Nur der versierte Mili­tärhistoriker weiß dazu, was bei diesen Gestalten auf der einen Seite zu überhöhen, auf der anderen zu streichen ist, um sie als gewissermaßen traditionswürdig herauszustellen. Danach frage man ihn aber am besten nicht. Und eben hier lag und liegt das Problem.

Es ging nicht um den Inhalt der Tradition, sondern um ihr Verhältnis zur Geschichte. Dieser Sachverhalt sei auf eine kurze, aber harte Formel gebracht: Tradition heißt Manipulieren der Vergangenheit, und das darf die Geschichte nicht tun. Nichts gegen die Manipulation, denn sie kann einem guten Zweck dienen. Vielleicht braucht eine Gesellschaft ihre Helden. Nur sollte der Historiker sie nicht aussuchen, denn bei derartigen Überlegungen wird eine Tatsache leicht übersehen: Tradition ist Gegenwart. Die Menschen le­ben heute in der Tradition und suchen das Neue durch Rückgriffe auf die Vergangenheit zu bestätigen. Dabei ist es durchaus möglich, gegenwärtig fragwürdig erscheinende Ideologien mit ähnlichen oder glei­chen einstmals tragfähigen Ideologien zu legitimieren. Ebenso kann etwas Antiquiertes heute durchaus op­portun erscheinen. Wie dem auch sei – es ist das Heute.

Der Historiker ist der Vergangenheit verpflichtet, er hat aus der kühlen Distanz des Wissenschaftlers zu rechtfertigen oder zu kritisieren, aber er hat sie nicht der Gegenwart dienstbar zu machen. Es ist hier nicht der Platz, über den Nutzen der Historie zu sprechen. In Bezug auf die Tradition ließe sich jedoch – wenn auch etwas pointiert – behaupten, es ist die Aufgabe des Historikers, ihr dauernd zu widersprechen. Bei ei­ner Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Tradition wird die Tradition nur ihrer ehrlichen Naivität beraubt, die Historie dagegen pervertiert. Es gibt kaum einen anderen Problemkreis, der die Di­vergenz zwischen wissenschaftlich freier und amtlich gebundener Geschichtsschreibung klarer verdeutlicht und die Entscheidung des ersten Amtschefs in ihrer Folgerichtigkeit bestätigt. Und diese damaligen Diver­genzen scheinen mir heute noch zu bestehen.

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