Prof.em.Dr. Rainer Wohlfeil:
Kaiser Karl V. – Ahnherr der Europäischen Union?
Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Tradition
Anläßlich der deutschen Gedenkfeier zum 400. Todesjahr Kaiser Karls V. im Jahre 1958 hatte Peter Rassow (1889-1961) in seinem Kölner Festvortrag zum Thema ‚Das Bild Karls V. im Wandel der Jahrhunderte‘ in einer Reflexion über historische Legendenbildung gefolgert, „der historische Karl V. eignet sich nicht zur Gallionsfigur für das Schiff der Europa-Bewegung“1. Als beispielhaft für den Versuch, den Kaiser des 16. Jahrhunderts (1500-1558) als Symbolfigur für die Europa-Idee des 20. Jahrhunderts zu verwenden, hatte er das Buch ‚Emperor of the West‘ von D. B. W. Lewis aus dem Jahre 1932 herangezogen2.
Als Leitbild für die europäische Einigungsidee – Vereinigte Staaten von Europa – im Kontext der politischen Bestrebungen und des Europamemorandums von 1930 des französischen Staatsmannes Aristide Briand (1862-1932) hatte Lewis Karl V. vorgestellt, weil von ihm eine sakrale Kaiseridee verfochten wurde, die unauflösbar mit der Einheit der überlieferten römisch-katholischen Christenheit verknüpft war. Christliche Eintracht in einem Glauben war, wie bei Karl, die zentrale These von Lewis als Voraussetzung für einen europäischen Zusammenschluß. Lewis folgerte, daß Europa dann zu seiner Einheit zurückfinden werde, wenn alle Christen, die in Religionsgemeinschaften außerhalb der römischen Kirche lebten, zum katholischen Bekenntnis zurückkehren würden.
Im Zusammenhang mit seiner Betrachtung hätte Rassow als profunder Kenner der Geschichte des Kaisers3 auch die Biographie ‚Karl V. Ahnherr Europas‘ von Gertrude von Schwarzenfeld (* 1906)4 heranziehen können. Erschienen 1954, entsprach der Buchtitel der Warnung Rassows vor falschen Gallionsfiguren. Die Autorin vertrat die Auffassung: „Und es ist wohl auch kein Zufall, daß die Gestalt des letzten großen Kaisers des Abendlandes heute neue Würdigung erfährt: seine Persönlichkeit rückt uns nahe, weil heute die universale Idee in uns wiedererwacht; sein Scheitern [ … ]
[Weiterlesen >> vollständiger Text mit Fußnoten im pdf-Format / neuer Tab >>]
Bibliografische Information: svz78
Prof.em.Dr. Rainer Wohlfeil: Kaiser Karl V. – Ahnherr der Europäischen Union?
Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Tradition,
in: Festschrift für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geburtstag, Leiden-New York-Köln 1997
(= Studies in medieval and reformation thought), S. 221 – 242.
[ … ] ergreift uns, weil wir fühlen, daß er für ein Grundprinzip Europas kämpfte. Seine lebenslange Bemühung, das Umfassende und Allgemeine über das Selbstinteresse der Teile zu stellen, gewinnt für uns neue Bedeutsamkeit, gilt es doch heute Europa als Ganzheit zusammenzufassen und es erneut an die alten, die gemeinsamen, die christlichen Werte zu binden.“5 – Die Zeitgebundenheit der Verfasserin ist damit unübersehbar, aber die Bezeichnung ihres ‚Helden‘ als ‚Ahnherr Europas‘ dürfte mehr dem werbungsbezogenen Verlangen des Verlages als ihrer Intention entsprochen haben, denn eine derartige unmittelbar gegenwartsverortete Einordnung Karls V. findet sich nicht in ihrer Biographie. Die Verfasserin folgert in ihrem ‚Schlußwort‘ nur, Karls Mißlingen ermahne uns, „die Suche nach dem gemeinsamen Wort wiederaufzunehmen, es fordert uns auf, die Mühe um ein geeintes Europa weiterzuführen, es erinnert uns an die versunkene erasmische Mitte, die wieder ans Licht zu heben ist, damit Europa die Mittlerstellung verwirkliche, zu der es berufen ist“6. Gegenwartsbezüge brachte sie also nur zurückhaltend ein.
Die Biographin beschwor also nicht die Einheit im römisch-katholischen Glauben, sondern nur die christlichen als gemeinsame alte Werte. Sie verband zugleich die Hoffnung auf ein ‚Europa als Ganzheit‘ mit der universalen Idee, knüpfte diese aber nicht an die Vorstellung eines geeinten Europa in einer weltweiten Ordnung, wie sie sich in den Vereinten Nationen hätte anstreben lassen, sondern orientierte sich an den politischen Leitvorstellungen eines Kaisers aus dem 16. Jahrhundert.
Als Aufgabe für den zweiten Teil ( II. ) meiner Überlegungen überprüfe ich, ob der universalen Idee und damit den Leitvorstellungen Karls V. eine Bedeutung für die Gegenwart zukommt. Zunächst ist nur festzuhalten, daß Rassow die Biographie von Schwarzenfeld nicht erwähnt hat. Hierfür lassen sich vielerlei Gründe vermuten. Größte Wahrscheinlichkeit birgt die Annahme, er habe das nicht streng geschichtswissenschaftliche Werk gar nicht zur Kenntnis genommen. Als Verfasser einer Untersuchung über die Kaiseridee Karls V. hätte er anderenfalls auch auf dieses Buch eingehen müssen. Reagiert hätte er mit Sicherheit, wenn ausgewiesene Historiker seiner Generation seine Warnung übergangen hätten. Das Werk des Vicomte Charles Terlinden (1878-1972) hätte seinen scharfen Widerspruch herausgefordert.
Aus der Feder dieses Professors für Staatsrecht und für Geschichte an der Universität Löwen erschien 1965 in Brügge die Biographie ‚Carolus Quintus / Charles Quint / Empereur des Deux Mondes‘, die auch ins Niederländische und Spanische übersetzt wurde und 1978 in deutscher Sprache unter dem Titel ‚Carolus Quintus. Kaiser Karl V. Vorläufer der europäischen Idee‘ mit einem Geleitwort von Otto von Habsburg vorgelegt wurde7.
Terlinden sah seine Aufgabe darin, „in einer Zeit, in der sich Europa unter dem Einfluß politischer und auch wirtschaftlicher Faktoren auf dem Wege zur Bildung einer harmonischen Gemeinschaft befindet … die große Persönlichkeit eines illustren Vorläufers der europäischen Idee wachzurufen“, einen „illustren Vorläufer eines geeinten Europa vorzustellen“8. Für ihn war Karl V. nicht nur einer „der größten Herrscher aller Zeiten“9, sondern auch „ein großer Europäer … Europäer und gleichzeitig universaler Herrscher durch die Weite und Vielfalt seiner Besitzungen, ebenso wie durch seine kaiserliche Auffassung der Einheit der alten Welt“, der „versuchte, das Heilige Reich Karls des Großen in seinem vollen Glanz wiederherzustellen“10. Karls „Ideal … war der Aufbau der Einheit Europas auf der Grundlage eines Bündnisses der christlichen Staaten zur Verteidigung der Zivilisation gegen die Gefahren aus dem Osten. In jener Zeit war diese Bedrohung ebenso ernst wie heute, in der an die Stelle der Türken die Sowjet-Union getreten ist“11. Stärker kann ein Historiker wohl kaum die Zeitgebundenheit seiner Aussagen bekunden – ein wohl unbewußtes Bekenntnis, denn der Autor erhebt zumindest indirekt den Anspruch, „das Werk der Wiedergutmachung“ gegenüber Karl V. verfaßt zu haben12. Der Kaiser, der von der „Bildung einer europäischen Union“ träumte13, strebte nach Terlinden an, ein „Programm der Einigung Europas“ zu verwirklichen, doch sein Tod und „das Scheitern seiner Politik an Schwierigkeiten, so vielfältig, komplex und umfangreich, daß menschliches Bemühen an ihnen zerbrechen mußte, sollten die Verwirklichung der Idee eines geeinten Europas, dessen weitsichtiger Vorläufer er war, um vierhundert Jahre verzögern“14. Es war eine Konzeption, die Terlinden seinem ‚Helden‘ schon zu Beginn seiner Herrschaft als eigen zuschreibt15 – eine Idee, die sich beispielsweise grundsätzlich von der im Kontext des Vertrages von Noyon (1516) während des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts vertretenen Hoffnung unterscheidet, daß durch ein Gleichgewicht der Mächte Europa zu einer friedlichen Einheit finden könne16.
Eine Annäherung an die inhaltliche Vorstellung Terlindens vom Begriff ‚Europa‘ soll zu Beginn des zweiten Teils mit einer Analyse versucht werden. Gertrude von Schwarzenfeld hatte die Bezeichnung ‚Abendland‘ verwendet, ohne ihr Begriffsverständnis näher aufzuzeigen. Sie wurde als „eine mytische und religiös-politische Konzeption“17 in jenem Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg durch „ideologiesierende Vorstellungen von Geist und Kultur“ geprägt und im Sinne vornehmlich am Hergebrachten festhaltender, teilweise sogar restaurativer Tendenzen aufgenommen, eingesetzt besonders im Zeichen des Ost-West-Gegensatzes als Kampfkategorie gegen das ‚Sowjetsystem‘ im Osten Europas. Der Begriff findet sich zwar nicht direkt bei Terlinden, durchdringt jedoch unterschwellig als konservative politisch-ideologische Leitvorstellungen im katholischen Verständnis18 die Konzeption seines Werkes und ebenso dessen Geleitwort von Otto von Habsburg, dem Präsidenten der Internationalen Paneuropäischen Union.
Als Fazit meiner Analyse des Werkes von Terlinden ist festzuhalten, daß dieser Historiker die Persönlichkeit Karls V. im Sinne einer Leitbildfunktion gedeutet und für die Gegenwart instrumentalisiert hat. Auf die Problematik seines Verfahrens soll im dritten Teil der Überlegungen ( III. ) eingegangen werden. Zuvor ist noch in gebotener Kürze darauf hinzuweisen, daß auch das Bildnis des Kaisers im Dienste der Propaganda für die Idee eines geeinten Europas eingesetzt worden ist, und zwar als Medium sowohl seitens gesellschaftlich-politischer Organisationen als auch besonders im staatlichen Interesse verschiedener Länder.
Als die Paneuropa Union anläßlich der Tagung des Europäischen Rates in Paris am 19./20. Oktober 1972 zur Erinnerung ihres fünfzigjährigen Bestehens und zugleich zum Gedenken an die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Montanunion, vor zwanzig Jahren sowie zur Feier des Vertrages über die Norderweiterung der Europäischen Gemeinschaft zum 1. Januar 1973 private Medaillen mit Wertangaben in der Europawährung (ECU) ausgab, befand sich Karl V. auf einer Silbermedaille zu 2 ECU, eingereiht zwischen Karl dem Großen und Napoléon Bonaparte, ebenfalls in Silber, gefolgt von Goldmedaillen mit den Bildnissen von Richard Graf Coudenhove-Kalergi, Jean Monnet und Paul Henri Spaak, Winston Churchill und Edward Heath, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und Robert Schumann19. Als Vorlage dürfte eine Zeichnung des Kaisers im Alter von 31 Jahren gedient haben, veröffentlicht bei Terlinden20. Spanien nutzte 1989 bei zwei Werten der ersten Ausgabe seiner anlaufenden, alljährlichen Medaillen der staatlichen Münze auf gesetzlicher Grundlage mit Wertangaben in ECU für die Bildseite das Gemälde von Tizian, das den Kaiser zu Pferd als Sieger auf dem Schlachtfeld bei Mühlberg zeigt, und verwandte für einen dritten Wert das Säulenemblem Karls V. und seine Devise ‚PLVS VLTRA‘21. Münzen als gesetzliches Zahlungsmittel mit einem Bildnis Karls V. wurden in Belgien und in Österreich in Umlauf gebracht. In Belgien waren es 1987 bis 1990 drei Ausgaben als Gedenkprägungen aus Anlaß des 30. Jahrestages der Römischen Verträge, eine in Silber und zwei weitere in Gold, gestaltet auf der Bildseite in Anlehnung an einen Guldiner zwischen 1540 und 1548 aus der Münzstätte Brügge22. In den Dienst der europäischen Idee bezog Belgien später auch den römischen Kaiser Diokletian, Kaiser Karl den Großen und Kaiserin Maria Theresia ein23. Die österreichische 100-Schilling Silbermünze von 1992 feiert den Kaiser zwar im Rahmen einer Millenium-Serie als eine der „Größen der 1000 jährigen Geschichte“ des Staates24, zugleich aber wird seine Darstellung in einer Prunkrüstung25 als Symbol für seine „Verteidigung der europäischen Einheit und des christlichen Abendlandes“ verstanden26. Diese Interpretation des kaiserlichen Wirkens steht hier zur Diskussion, nicht dagegen der Sachverhalt, daß der eigentliche Begründer des neuzeitlichen Österreichs, Ferdinand I., sich die Wertseite der Münze mit Karls Sohn Philipp II. von Spanien teilen muß.
Generell folgt als Münzbild Karl V. nach Karl dem Großen27 an zweiter Stelle auf der Liste jener historischen Persönlichkeiten, die in Europa in Verbindung zur werdenden Gemeinschaft gesetzt wurden. Daß sich Belgien in herausragender Weise auf den Kaiser des 16. Jahrhunderts bezog, erklärt sich einerseits aus der Bedeutung seiner heutigen Regionen als Kernländer der burgundischen Niederlande während dessen Regierungszeit, kann aber zusätzlich auch durch die Lebensbeschreibung des Kaisers seitens des Belgiers Terlinden angestoßen worden sein. Seine Biographie regte in Belgien vielleicht ebenfalls zur Prägung der drei ECU-Münzen mit zwei verschiedenen Darstellungen Karls des Großen an28, erwähnt doch Terlinden eine Rückbesinnung im Jahre 1519 auf den Kaiser des 8./9. Jahrhunderts29: Karls V. Großkanzler Mercurino Arborio di Gattinara (1465-1530) hatte sich in einer Denkschrift auf Karl den Großen bezogen, als am kaiserlichen Hof die Kunde von der Frankfurter Wahl Karls zum römischen König eintraf; dem Kaiser selbst scheint dieser Bezug auf Karl den Großen niemals in den Sinn gekommen zu sein30. Vom fränkisch – karolinischen Reich als ‚Heiligem Reich‘ sprechen weder Karl noch Gattinara31. Karl dem Großen als anderem Ahnherr kann hier nicht weiter nachgespürt werden.
II.
Die These von einer Ahnherrnqualität Karls V. wirft geschichtswissenschaftlich die Frage auf, ob es historische Sachverhalte gibt, auf die eine Leitbildfunktion jenes Kaisers des 16. Jahrhunderts für die Gegenwart wissenschaftlich legitim begründet werden kann. Zu reflektieren ist in diesem Zusammenhang, daß Leitbilder in erster Linie Kategorien der Tradition sind. Zwischen Tradition und Geschichte besteht eine Spannung. Eine derartige Unstimmigkeit offenbaren das Werk Terlindens ebenso wie die Münzbilder. Das Verhältnis zwischen Geschichte und Tradition wird abschließend diskutiert werden. Zuvor soll auf die Frage nach den geschichtlichen Grundlagen des beanspruchten Vorbildcharakters Karls V. für die Gegenwart eine Antwort gesucht werden. Waren – so lautet ein ganz knapp abzuhandelndes erstes Problem – im Europa des 16. Jahrhunderts jene strukturellen Gegebenheiten und mentalen Voraussetzungen gegeben, die eine europäische Einigung im Sinne einer Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten zugelassen hätten, und was besagt zweitens die These von der universalen Idee des Kaisers. Birgt sie die ihr von Schwarzenfeld und Terlinden zugeschriebene ‚europäische Konzeption‘?
Terlinden vermittelt keine Vorstellung, wie jene europäische Union zusammengesetzt sein sollte, die Karls V. Traum gewesen sei32. Auch läßt der Autor nicht erkennen, welche Vorstellung von einer europäischen Gemeinschaft er selbst um 1965 vertrat. Aus ihr ließen sich Rückschlüsse ziehen. Sein Begriffsinhalt ist nicht mit dem ‚Europa der Sechs‘, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zu identifizieren, denn ihr gehörten beispielsweise Spanien und Österreich – Kernländer des habsburgischen Weltreiches – erst seit 1986 bzw. 1995 an. Daß sich die EWG erweitern werde, konnte damals wegen der 1960 in Kraft getretenen Europäischen Freihandelszone nur erhofft werden. Mit Großbritannien, Irland, Dänemark und Griechenland schlossen sich 1973 bzw. 1981 Staaten der Europäischen Gemeinschaft an, von deren Einbindung in eine europäische Union vielleicht Terlinden, jedoch kaum Karl V. geträumt haben könnte, ebenso wenig von der späteren Ausdehnung der EG auf Schweden und Finnland. In des Kaisers Traumkonzeption hätte sich Polen-Litauen besser eingepaßt als jene Staaten, deren Völker zu seiner Zeit unter der Herrschaft der osmanischen Türken lebten, oder gar die heutige Türkei selbst – alles Bewerber um eine Aufnahme in die Europäische Union. Teile des damaligen türkischen Reiches hätte Karl zwar dann in seine Traumvorstellung von einer Union einschließen können, wenn er eine derartige Utopie mit den in der Titulatio seiner Urkunden33 aufgeführten Herrschaftsansprüchen verbunden hätte – etwa das Königreich Jerusalem und die Herzogtümer Athen und Neopatria. Aber ein Rückgriff auf die Titulatur hätte auch die Einbeziehung der amerikanischen Kolonien der Krone Kastilien eingeschlossen. Insgesamt läßt sich demnach die Titulatur, unabhängig vom tatsächlichen Gehalt der angeführten Rechtskomplexe34, nicht zur Traumdeutung heranziehen.
In der Titulatur wurden auch die verlorengegangenen altburgundischen Länder reklamiert, aber kein Anspruch auf Frankreich angemeldet. Das französische Königreich war jedoch jener Staat, der als Macht ausgeschaltet werden mußte – wie Gattinara es gefordert hatte35 -, sollte eine christliche Weltmonarchie errichtet werden. Sie stellte jene Ordnung dar, die der Großkanzler seinem Kaiser zu verwirklichen antrug. Es wäre eine Monarchie gewesen, deren natürlicher Mittelpunkt das habsburgische Machtssystem hätte bilden sollen. Den christlichen Völkern römisch-katholischen Glaubens versprach sie den allgemeinen Frieden und dem so befriedeten Europa Schutz unter der Oberherrschaft Karls V. Offen blieb in den Denkschriften Gattinaras, wo die Grenzen dieses Europas liegen, d. h. welche Länder es einschließen sollte. Diese kaiserliche Ordnung hätte zwar den einzelnen Völkern ihre Staaten in territorialer Unabhängigkeit belassen, aber sie hätten sich der rechtlichen und moralischen, sakral begründeten Oberhoheit des Kaisers und damit eines einzelnen freiwillig unterwerfen und sich seiner Führung zu gemeinsamen Unternehmungen unterstellen müssen. Das war die Konzeption einer Universalmonarchie und nicht die einer wie auch immer gearteten Union gleichberechtigter europäischer Staaten.
Die Idee einer Universalmonarchie hat sich politisch nicht verwirklichen lassen. Sie war auch gar nicht realisierbar, da der Kaiser aus strukturbedingten Gründen schon darauf verzichten mußte, sein Reich – d. h. die Summe seiner einzelnen Länder mit ihren unterschiedlichen Festigkeits- und Selbständigkeitsverhältnisssen im Rahmen einer Personalunion – in ein formiertes gesamtstaatliches Gebilde mit entsprechenden Institutionen umzubauen. Gattinaras Gutachten von 1519, wie sich die Einheit des Gesamtreiches bewerkstelligen ließe, blieb ein Traum des Großkanzlers36. Voraussetzung dafür wäre eine gewisse Übereinstimmung seiner monarchischen Stellung und Rechte in den verschiedenen Ländern gewesen. Sie bestand nicht, denn zu unterschiedlich waren die verfassungsrechtlichen Positionen, die sich aus den geschichtlichen Verhältnissen ergaben – beispielsweise des kastilischen Königs und des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches. Eine gewisse einzelstaatliche Zentralisierung ließ sich in den Burgundischen Niederlanden und mit Anfängen auch im Bereich der Krone Kastilien durchsetzen; sie wurde in den Ländern der Krone Aragon und in den italienischen Besitzungen nicht versucht, und in Deutschland ist der Kaiser mit seinem Bundesplan gescheitert37. Daß seine Verfassungsreformbestrebungen von 1547/48 „gesamteuropäische Tendenzen“ erkennen lassen38, ist eine These, die sich anhand der Quellen nicht verifizieren läßt. Insgesamt war schon die strukturelle Basis des dynastisch begründeten Weltreiches heikel, gewährte nur bedingten verfassungsgemäßen Spielraum und begrenzte die Freiheit kaiserlicher Entscheidungsgewalt. Aus diesem Sachverhalt folgert, daß einer Ausdehnung der Herrschaft Karls V. auf Länder außerhalb seines habsburgischen Reiches Hindernisse entgegengestanden hätten, die mit friedlichen Mitteln nicht zu beseitigen waren. Daß sie mit Gewalt hätten dauerhaft überwunden werden können, erscheint unwahrscheinlich – abgesehen davon, daß eine derartige Politik dem Kaiser fremd war. Es gab im 16. Jahrhundert keinen Weg zu einer Staatengemeinschaft, die auch nur annähernd mit der gegenwärtigen Europäischen Union vergleichbar gewesen wäre.
Sie lag aber auch im Bereich der geistigen Vision außerhalb der zeitgenössischen Vorstellungen – sieht man ab von einsamen Denkern. Schon innerhalb des eigenen Reiches wurde Karls Kaisertum keineswegs durchgängig einhellig begrüßt. Außerdem deckten sich Ausgangslage und Bewertung am Ende seiner Herrschaftszeit nicht. Als geborenen Fürsten erkannten ihn nur die burgundischen Niederländer uneingeschränkt an. Sie standen hinter ihrem Landeskind bis zu seiner Abdankung, auch wenn sich die ursprüngliche vorbehaltlose Zustimmung zu seiner Politik abschwächte und die Kritik an den Forderungen zunahm, die Karl als Kaiser infolge seiner Kriege mit Frankreich an die Provinzen stellte.
In Spanien schlug dem jungen Habsburger während seines ersten Aufenthaltes keine helle Begeisterung entgegen. Die Kastilier identifizierten sich voller Stolz auf ihre Erfolge im Kampf gegen die Mauren (Eroberung Granadas 1492), über die Entdeckung ‚Westindiens‘ und über dessen beginnende Kolonisation mit der Vorstellung einer von jedweder fremden Gewalt unabhängigen ‚Nation‘, die ihnen über die Katholischen Könige und deren politisches Werk vermittelt worden war. Daher wehrten sie sich in den ersten Regierungsjahren Karls dagegen, daß ihr kastilisches Königtum einem fremdem Kaisertum nachgeordnet zu werden drohte und daß ganz allgemein ausländische Institutionen an die Stelle der überlieferten eigenen zu treten schienen39. Sie erkannten zwar den jungen Habsburger als ihren König an, jedoch nicht als ‚Karl V.‘, sondern als ‚Carlos I‘. Nach Menéndez Pidal40 hätte sich der junge König mit einem Herrschaftsverständnis identifiziert, das geprägt war durch das Vorbild seiner spanischen Großeltern und das die Aufgaben und Pflichten seines Kaisertums aus der nationalen Tradition einer kastilischen ‚Idea imperial‘ herleitete. Auf Kastilien bezogen akzeptierte diese Überlieferung weder eine Ein- oder gar Unterordnung in das Sacrum Romanum Imperium noch eine universalistische Politik in dessen Kontext. Seiner geschickten Verhaltensweise verdankte es dann Karl in der zweiten Hälfte seiner Herrschaftszeit, daß sich Kastilien mit seinem Kaisertum nicht nur versöhnte, sondern sich auch mit dessen Anforderungen so stark identifizierte, daß beispielsweise die Bekämpfung des deutschen Protestantismus ebenso wie schon zuvor der Kampf gegen den Islam als eigene, ’nationale‘ Aufgabe begriffen wurde. Nunmehr waren kaiserliche Siege wie Mühlberg auch spanische Siege – ein Sieg, der ihn zugleich den Deutschen vollends entfremdete.
Mit Karl als Landesherrn wurden seine italienischen Untertanen mehrheitlich erst konfrontiert als er 1535 im Ruhme des Siegers während des Tunisfeldzuges über die afrikanischen Korsaren süditalienischen Boden betrat. Unter diesen Bedingungen schlug ihm eine Welle aufrichtiger Begeisterung entgegen. Sie ebbte bis zum Ende der Regierungszeit wieder ab, man arrangierte sich aber mit der spanischen Fremdherrschaft. Als solche wurden der Kaiser und seine Vertreter durchgängig eingestuft.
Entgegengesetzt zur Entwicklung in Spanien entfaltete sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Kaiser. Ursprünglich als das ‚edle deutsche Blut‘ bezeichnet und auch von breiten Schichten des Volkes voller Freude begrüßt, wandelte sich die Haltung und nahm zugleich die antispanische Stimmung zu, bis Karl in seinem letzten Regierungsjahrzehnt von der weitaus überwiegenden Mehrheit der Deutschen, vor allem von den Evangelischen, gehaßt und von den Katholiken höchstens geachtet wurde41. Zugleich offenbarte Karls Scheitern in Deutschland, daß es ihm im Heiligen Römischen Reich nicht gelungen war, kaiserlich-deutsches und königlich-kastilisches Herkommen in eine übergreifende Herrschaftsauffassung zu integrieren42. Die Mentalitäten waren zu wesensverschieden, ließen eine gemeinsame Einheit schon deshalb nicht zu. Was aber im habsburgischen Reich nicht zu verwirklichen war, hätte sich auf europäischer Ebene als ein chancenloses Unterfangen erwiesen. Man bedenke nur, daß die antihabsburgische Politik der französischen Könige Franz I. und Heinrich II. von ihren Untertanen fast einhellig mitgetragen wurde sowohl in den Monaten höchster Gefahr für die Unversehrtheit der Monarchie (1525/26) als auch beim ersten Waffengang unter dem neuen Herrscher. Europa war im Bannkreis aufsteigender Nationalstaaten gedanklich-geistig noch nicht für eine Union zu gewinnen.
Im Zentrum der Thesen, die Karl V. als Ahnherrn beschwören, steht dessen übergreifende ideologisch-politische Herrschaftskonzeption – die universale Idee. Welcher Gehalt eignete ihr und ist diese heute als Leitbild für die Einheit Europas nutzbringend zu befragen? Eine Antwort auf diese Frage setzt voraus, daß der politische Leitbegriff der frühen Neuzeit, die Kategorie Monarchia Universalis, geklärt ist. Dieser Aufgabe hat sich Franz Bosbach gewidmet. Seine Aussage lautet: „Die Universalmonarchie in der Zeit Karls V. war für ihre Befürworter wie für ihre Gegner eine theoretische Konzeption von Herrschaft, die in Überordnung über alle Herrscher allgemein interessierende und über den einzelnen Herrschaftsbereich hinausreichende Aufgaben erfüllte. Diese Aufgaben wurden mit denen des Kaisers der Christenheit identifiziert, die Universalmonarchie war hierin zunächst ganz an die Person der Kaisers gebunden.“43
Wie dieses Konzept von Karl V. wahrgenommen und von welcher herrschaftsleitenden Idee sein Handeln und Wirken bestimmt wurde, ist ein Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Kontroversen. Die einschlägigen Aussagen zum Problemfeld von Staatsauffassung und Reichsvorstellung lassen sich unter dem Begriff ‚Herrschafts-‚ oder geläufiger ‚Kaiseridee‘ auf einen Nenner bringen. Die ‚modernen‘ Erörterungen begannen im dritten und vierten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts unter vornehmlich geistesgeschichtlichem Erklärungsansatz – eine Diskussion, die andauert und bis heute nicht abgeschlossen ist44. Wortführer in einer grundlegenden Phase waren Karl Brandi (1868-1946), Peter Rassow und Ramón Menéndez Pidal (1869-1968); Hugo Hantsch (1895-1972) kann außerdem dieser Gruppe zugeordnet werden. Ihre unterschiedlichen Thesen unterstreichen zugleich das Analyseergebnis von Heinrich Lutz (1922-1986), daß zwei historiographische Interpretationslinien zur Geschichte des Kaiser vorliegen, eine mitteleuropäische und eine südeuropäische45.
Unter südeuropäischem Aspekt hat sich vor allem Menéndez Pidal mit der Kaiseridee Karls V. befaßt46. Gemäß seiner Deutung wurzelten Karls Verständnis und Vorstellungen vom Kaisertum in der kastilisch-spanischen Überlieferung einer originären ‚Idea imperial‘, waren bestimmt durch das Vorbild seiner spanischen Großeltern, des Katholischen Königspaars Ferdinand und Isabella, und wurden umgesetzt in eine Politik, die ausgerichtet war vor allem auf Italien und Nordafrika, folgend der aragonesischen Überlieferung des Großvaters47.
Zuvor hatte Brandi im Rahmen eines mitteleuropäischen, universal ausgerichteten Interpretationsansatzes die politischen Leitvorstellungen Karls V. aus dem dynastischen Gedanken resultieren sehen, „der in ihm stärker als irgendwo in der Weltgeschichte lebendig und wirksam geworden ist, ihm selbst als Mensch und Herrscher die tiefsten sittlichen Antriebe gab“48. Der Kaiser habe „aus der Summe der von ihm ererbten Herrschaftstitel einen neuen europäischen und in gewissem Sinne überseeischen Imperialismus, ein Welreich (gebildet), das zum ersten Male nicht auf Eroberung, noch weniger auf einer zusammenhängenden Ländermasse aufgebaut war, sondern auf der dynastischen Idee und der Einheit des Glaubens“49. Er führte „seine Reiche aus den veralteten Staatsformen des aufgelösten Ritter- und Städtestaates (sic!) mit ihren Privilegien, lokalen Fehden und Machtverschiebungen zu einer höheren Stufe der Staatsidee… Die letzte Wirkung der dynastischen Weltmachtspolitik Karls lag deshalb überraschend genug doch wieder in der Richtung der beherrschenden Idee des Jahrhunderts aufsteigender moderner europäischer Staaten“50. Verbunden habe sich dieser auf die habsburgische Dynastie ausgerichtete Leitgedanke mit universalistisch-römischen Herrschaftsvorstellungen. In Brandi sieht Alfred Kohler den „Vertreter einer dynastisch gebundenen und insofern statischen Konzeption“, der Karls Herrschaftsauffassung „im Sinne einer harmonisierenden dynastisch – europäischen Sichtweise“ gedeutet und dabei die dynastische Idee überschätzt hat51.
Eingebunden in diese dynastische Reichsidee ist der Kaiser – gemäß Brandi – in seinem Handeln und Wirken letztlich nicht dem radikalen, in ghibellinischer Gedankenwelt wurzelndem, römisch-rechtlichem Denken verpflichteten antifranzösischen Weltreichskonzept Gattinaras von einem ‚Dominium mundi‘ gefolgt, das sich nach Lutz in der einfachen Formulierung fassen läßt, „Karl ist zur Weltherrschaft berufen“52. Gattinara begriff also anders als sein Fürst das Kaisertum „als Anspruchstitel und als Mittel für Karl V. zum Erreichen der universalen Herrschaftsposition“53.
Rassow hat als Leitbild der Politik Karls V. die These von einer Kaiseridee vertreten, die zu verstehen ist als die Vorstellung von einem sakralen Kaisertum in mittelalterlichem Verständnis zur Wahrnahme der Führungsaufgabe in der Christenheit. Karls Kaiser- und Reichsidee, höher bewertet als der dynastische Faktor gemäß Brandi, kam die Funktion einer Klammer zu für „das Reich Karls V.“ als „das im Erbgang ihm zugefallene Konglomerat von Staaten und Herrschaften in Burgund und Spanien und in Österreich, hinübergreifend nach Italien, Afrika und den neuen Reichen jenseits der Ozeans. Die Reichsidee aber war die mittelalterliche Idee des Kaisertums, die dem Papsttum zugeordnete Führungsaufgabe in der Christenheit“54. Ihre Aufgabe lautete: „Friede und Einheit in der Christenheit, Sicherung der Christenheit gegen Feinde im Innern, gegen die Ketzerei, und gegen die Feinde nach außen, gegen die Ungläubigen, das türkische Reich“55. Diese Kaiseridee war schon in seinen frühen Jahren „das Leitbild seines Handelns“56.
Die Interpretationen von Menéndez Pidal, Brandi und Rassow hat Lutz als eine „Verklärung und Überhöhung von Karls Politik“ bezeichnet57, die auch manchem anderen Beitrag zum Gedenkjahr 1958 eigne. In einer Zusammenstellung derartiger Veröffentlichungen58 findet sich allerdings nicht Hantsch angeführt59. In dessen Wiener Festvortrag60 „Die Kaiseridee Karls V.“ von 1958 schrieb Hantsch Karl eine Auffassung vom Kaisertum zu, die ihn weit über Gattinaras machtpolitische Gedanken erhoben habe. Macht sei vom Kaiser begriffen worden als „Auftrag im Dienste Gottes, zur höheren Ehre Gottes“, sich selbst verstehend als „Erhalter einer gottgewollten Ordnung und Einheit“. Durchdrungen vom „Bewußtsein von der heiligen Würde des Kaisertums“, erhob es sich „über die Grenzen von Ländern und Völkern“ im Dienste des christlichen Abendlandes. Alle Vorbilder und Lehren, denen Historiker mehr oder minder großen Einfluß auf seine Auffassung vom Kaisertum zugeschrieben haben, seien nicht „so tief in seine Seele (eingedrungen) wie die Stimme Gottes, die ihm den Weg vorzeichnet“. Diese Kaiseridee „reicht ins Metaphysische und abstrahiert vielfach von der Relativität konkreter Erscheinungen“. War eine noch stärkere ‚Verklärung und Überhöhung‘ im Kontext des Denkens in Abendland-Visionen möglich?
Zu den weiteren Historikern – und nur eine Auswahl an Autoren kann hier kurz vorgestellt werden -, die Karls Leitvorstellungen auf den Begriff zu bringen bemüht waren, zählt Erich Hassinger mit seiner These, daß der Herrscher „sein Kaisertum als universale christliche Mission verstand“61. Für Hans-Joachim König war die Grundidee, die Karls Handeln prägte, die Vorstellung von der „politischen und kirchlichen Einheit der Christenheit, deren Ausdruck das Imperium Romanum war“62. Hartmut Lehmann analysierte die kaiserliche Politik unter der Fragestellung, ob anstelle von universalem Kaisertum oder dynastischer Weltmacht von einem Imperialismus Karls zu sprechen wäre63 – ein Ansatz, der nicht zutreffe. Schon 1966 hatte jedoch Fernand Braudel davor gewarnt, den Kaiser in ein Konzept zu sperren, auf das er ein für allemal festgelegt gewesen sei, wie denn überhaupt die „Kontroverse …, wie nun die imperialen Pläne Karls V. mit letzter Genauigkeit zu definieren seien, … etwas Vergebliches“ habe64. Tatsächlich ist nicht immer ausreichend reflektiert worden, daß zwischen Kaiseridee und politischer Praxis zu unterscheiden ist. Jüngst sprach Ferdinand Seibt vom Kaisertum als einem „Ordnungsbild niemals genau definierter kaiserlicher Schutzherrschaft über die Christenheit“65. Weltherrschaft sei „zuallererst ein Ordnungsproblem“ gewesen66. Die Kaiseridee sei kein „abstraktes Gedankenwerk, sondern seine eigene und natürlich im Laufe seines Lebens auch veränderte Selbstdarstellung“ gewesen, „orientiert an seinem Ritterideal und dort auch bis zuletzt festgehalten“67 Seiner Auffassung gemäß ist ‚Weltmonarchie‘ „nicht dem Mittelalter, sondern besonderen Umständen zuzuordnen, und Karls Weltmonarchie war, nach der Landkarte, nach seinem Wahlspruch, nach Wappen und Symbolen … aus seinem eigenen herrscherlichen Hochgefühl erwachsen. Herrschertitel und Hofallegorie kamen ihm dabei zu Hilfe. Aber der kaiserliche ‚Herkules‘ tritt nicht auf als Heilsbringer in einer ‚mittelalterlichen‘ Weltenallegorie“68. Auch habe sich der Kaiser nicht zu Gattinaras Ansicht geäußert, Karl sei zur Weltmonarchie berufen69. Dennoch umspannte sein Kaiserbegriff die „ganze Welt“70, sein Kaisertum war gekennzeichnet durch eine „personalisierte Herrschaftsauffassung“71. Nach Seibt habe Karl am Ende seines Lebens den „Aberwitz der Universalmonarchie“ durchschaut und daher abgedankt72.
Eine neue Stufe der Diskussion im Sinne einer übergreifenden Betrachtungsweise betreten hatte zuvor Lutz. Für „ausgedient“ bewertete er die bislang gängige „schlichte“ Gegenüberstellung von Karls mittelalterlich geprägtem Universalismus und modernem Nationalstaat73. Schon 1964 hatte er zu erörtern angeregt, ob die historiographisch vorherrschende Gegenüberstellung vom ‚mittelalterlichem Kaisertum‘ in der Person Karls V. und modernem Nationalstaat in der Form Frankreichs beibehalten werden könne74. Begegnet wären sich vielmehr zwei politische Systeme mit einer Reihe von gemeinsamen strukturellen Voraussetzungen, in denen sich jeweils Altes und Neues vermischt hatten: „mittelalterliches Erbe an Eigenstaatlichkeit und neuerwachter Universalismus“75. Mit einem überzeugenden neuen Interpretationsmuster im Verständnis von einer „moderni-sierenden Dynamik des habsburgisch-französischen Konflikts“ die Problematik von Kaiseridee und Universalmonarchie Karls V. auf einer anderen als der bisherigen Diskussionsebene aufzuarbeiten, war Lutz nicht vergönnt76. Seinem angerissenen Interpretationsmuster zufolge müßte „nicht nur die relative Vergleichbarkeit der beiden Konfliktpartner deutlich“ herausgearbeitet, „sondern auch die jeweils spezifische Mischung traditioneller und moderner Elemente im Selbstverständnis und im politischen System der beiden Seiten und das allgemeine Vorangetriebenwerden der politischen ‚Modernisierung‘ Europas durch den Dauerkonflikt“77 analysiert und historisch erklärt werden. Den Ansatzpunkt hierzu sah Lutz in dem besonderen, bei Brandi bereits vorgegebenen Bezug zwischen ‚Person und Sache‘. Die Frage nach der Kaiseridee ordnete er somit ein in die übergreifende Problematik einer Typologie des Herrschaftssystems Karls V. zwischen Mittelalter und Neuzeit78. In Gattinaras universalem Programm analysierte Lutz nicht irgendeine Neuformierung mittelalterlichen Gedankengutes, sondern „ein neuartiges rationales Einheitsprogramm“, das „den absoluten Weltherrschaftsanspruch des Kaisers dem spätmittelalterlichen Staatenpluralismus“ entgegensetzte79. Karl V. hat selbst den Weg zur Monarchia Universalis eingeschlagen, ist aber bei seinem Beschreiten gescheitert.
Die Lehre von der Monarchia Universalis war zu Lebzeiten Karls V. lebendige Theorie, bestimmt vor allem in Rezeption und Weiterführung von mittelalterlichen Denktraditionen über die Universalmächte Papst und Kaiser80. Sie beeinflußte das politische Denken und Handeln, hatte sie doch unter diesem Kaiser einen hohen Grad an Anschaulichkeit erfahren. Die Propaganda Karls V. verband die greifbar scheinende Universalmonarchie mit seinem konkreten Kaisertum, erhöhte und vollendete es in dem Anspruch, über die rechtlich begründete, unmittelbare Weisungsbefugnis gegenüber allen Fürsten zu verfügen und diese politisch mit Machtmitteln durchsetzen zu dürfen. Als Konzeption blieb die überlieferte Lehre von der Universalmonarchie solange in der Vorstellungswelt der Zeitgenossen fest verwurzelt wie die Gesamtheit christlicher Herrschaften als ein Corpus gesehen wurde, dessen Häupter Papst und Kaiser waren. Sie ist damit für die Gegenwart ebenso wenig instrumentalisierbar wie eine dynastisch begründete oder eine sakral verwurzelte oder eine gottbezogen-metaphysisch verortbare universale Ordnungsvorstellung für eine menschliche Gemeinschaft oder wie ein personalisiertes Herrschaftsverständnis.
III.
Einheit in einem Glauben und in einer Kirche erschienen auch im 20. Jahrhundert Lewis und Terlinden81 als zentrale Voraussetzungen für eine politische Einheit Europas. Lewis hatte die Idee einer Rückkehr aller Europäer zur Christenheit des römisch-katholischen Bekenntnisses als Voraussetzung für die Einigung Europas propagiert und im Vorkämpfer für die sakral begründete Einheitsidee, in Karl V., ein Leitbild für den Protagonisten einer europäischen Einigung in seiner Gegenwart angeboten. Seiner These hatte Rassow entgegnet: „Wir … müssen als Historiker sagen: Wenn es diese ‚Christenheit‘, die es zu Karls Zeiten noch gab, heute nicht mehr gibt, wem ist dann damit gedient, Karl V. zur Symbol-Figur der heutigen für uns so dringend notwendigen Europa-Bestrebungen zu machen? Ein säkularisierter Karl ist eben kein historischer Karl mehr. E i n e Erwägung sollte die Verbreiter solcher historischer Nebelbilder von dieser irreführenden Analogie abschrecken: Karl ist nun doch mit seiner Politik, die die Christenheit umfaßte, gescheitert! Wer will eine gescheiterte Persönlichkeit als ideellen Führer anerkennen?“82 Aber gab es, so ist – Rassow ergänzend – zu fragen, zu Karls Lebzeiten überhaupt noch die eine Christenheit? Sie, die sich gerade während der Herrschaftszeit des Kaisers gespalten hatte, wiederzuvereinigen, war doch eines seiner zentralen Ziele gewesen – eine Aufgabe, die er ebenso wenig hatte bewältigen können wie seinen Versuch, die europäische Staatengemeinschaft seiner Zeit in einem universalen Herrschaftssystem unter seiner Führung zusammenzuschließen. Europa im 20. Jahrhundert auf der christlichen Grundlage eines Glaubens zu vereinigen, war schon um 1930 eine Utopie angesichts europäischer Gesellschaften, die zwar in großen Teilen noch von christlicher Vorstellungs- und Wertewelt geprägt waren, aber in ihren Entscheidungen grundsätzlich nach anderen Kategorien handelten. Es gab nicht mehr jene christlich bestimmte Lebenswelt, in der Karl V. tätig geworden war.
Die Einheit im Glauben als Leitgedanken für die Europäische Union einzubringen war und bleibt ein wirklichkeitsfremder Vorschlag. Karl V. ist aber nicht nur im Versuch, die Einheit der Christenheit wiederherzustellen, gescheitert, sondern hat auch keine Konzeption hinterlassen, die für die gegenwärtige Einigung Europas Anregungen birgt. Die Biographie von Schwarzenfeld hatte über den Buchtitel in dem ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwar die teilweise enthusiastische Hoffnung vieler Deutscher auf ein vereintes Europa und ihre Suche nach historischen Leitbildern reflektiert, jedoch hatte sich die Autorin nicht dazu verstiegen, eine solche Funktion Karl V. unmittelbar zuzuschreiben. Die Erinnerung an den Kaiser des 16. Jahrhunderts beschwor nur eine bedeutende Persönlichkeit der Vergangenheit, um ihren Lesern Hoffnung und Mut zu vermitteln für eine zukunftsorientierte Bewältigung der Gegenwart unter einer politischen Perspektive, die sich für Europa schon einmal eröffnet zu haben schien – ein historisch noch legitimes Verfahren. Daß hierbei Europa mit dem ‚Abendland‘ gleichgesetzt wurde, ergab sich für sie und andere, vor allem konservativ geprägte Autoren aus ihrer Einbindung in die Periode des kalten Krieges und deren Nachwirkung. Wenn jedoch Terlinden seinem „gebildeten Publikum“83 die Herrschaftszeit Karls V. als „eine der glorreichsten Regierungen der Geschichte“84 offeriert, deren politisches Ziel „die Schaffung eines geeinten Europa“85 war, dem Kaiser ein Handeln „getreu seiner europäischen Konzeption“86 zuschreibt und von einem „Programm der Einigung Europas“87 spricht, geht er über Aussagen hinaus, die sich als historisch legitim bewerten lassen, sondern nur noch als zeitgebunden erklärt werden können; zugleich bleibt Terlinden seinen Lesern die inhaltlich konkrete Beschreibung oder gar Analyse eines derartigen Entwurfes schuldig – es sei denn, man sieht sie in dem ein einziges Mal eingebrachten Begriff ‚Bündnis‘88. Eine geschichtswissenschaftlich offene Frage ist es, ob es zum Erreichen einer Universalmonarchie überhaupt einen „Großen Plan“ gab89. Wenig deutet auf die Annahme hin, das er entwickelt worden ist. Eine Universalmonarchie ließ sich anstreben, ohne daß ihre Gestaltung zuvor projektiert worden war. Karl V. und seinen Beratern ging es gegebenenfalls um die Monarchia Universalis in Form von Vorherrschaft des Kaisers in Europa, nicht um einen Zusammenschluß gleichberechtigter europäischer Staaten durch „Bildung einer europäischen Union“. Der Traum Karls90 enthüllt sich als ein Traum Terlindens.
Die Analyse der strukturellen und mentalen Voraussetzungen im 16. Jahrhundert sowie besonders der Kaiseridee hat ergeben, daß der Karl V. zugeschriebene Plan einer Einigung Europas in Form eines freiwillligen Zusammenschlusses der Staaten zu einer Gemeinschaft außerhalb der politischen Möglichkeiten und Intentionen des 16. Jahrhunderts lag. Diese Erkenntnis wirft die Frage auf, wie und warum Terlinden zu derartigen Thesen gelangen konnte. Um sie zu beantworten, ist von seinem leitenden Erkenntnisinteresse auszugehen. Eigener Bekundung gemäß, wollte er Karl V. endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen91 und offenbar zugleich den Wurzeln des europäischen Einigungsstrebens nachspüren. Diese Aufgabenstellung ist geschichtswissenschaftlich legitim. Angegangen ist er sie unter den Bedingungen seiner Sozialisation und Lebensgestaltung als überzeugter Europäer belgischer Nationalität, als Persönlichkeit, die im Bannkreis des Hauses Habsburg stand92 und als ein Mensch, der offensichtlich dem römisch-katholischen Bekenntnis fest verbunden war93.
Vorgelegt hat Terlinden eine Biographie, die Liebe zum Detail verrät – ein kaiserliches Leben dargestellt in der bunten Vielfalt interessanter Einzelheiten, beschreibend und deutend unter dem Aspekt eines Belgiers, der stolz ist auf das Landeskind Karl und der in den burgundischen Besitzungen jenes Kaisers „eines der ersten Länder der Welt (sieht), das durch seine geographische Lage befähigt war, eine besondere Rolle in einem geeinten Europa zu spielen“94. Mit heißer, von Liebe zur Sache zeugender, aber oft zu flüchtig genutzter Feder95 abgefaßt, stilisiert Terlinden seinen Landsmann zu einem europäischen Helden, dessen politischem Wollen legendenhafte Züge eignen. Karl V. wird von ihm stärker als bei den anderen Autoren verklärt und überhöht gezeichnet. Bewußt sagenhafte Geschichte erzählen zu wollen, dürfte Terlinden ferngelegen haben, aber auch unbeabsichtigter „historischer Legendenbildung ist … mit Entschiedenheit zu widerstehen“96. Legenden bergen zwar kaum Gefahren für den historisch Versierten, wird er sich doch mit ihnen kritisch auseinandersetzen. Andere Leser können jedoch der Faszination der interessant abgefaßten Lebensbeschreibung erliegen und durch sie ein Bild von einer vergangenen historischen Wirklichkeit rezipieren, das traditionsbildend wirkt, weil es scheinbare Bezüge zur Gegenwart enthält. Legenden sind meist die Grundlage von Tradition; zwischen Tradition und Legende besteht aber nicht nur ein Wechselverhältnis, sondern Legendenbildung ist eine Voraussetzung der Indienstnahme der Tradition für ideologische Zwecke. Der Gefahr, eine derartige Legende zu schaffen, ist Terlinden infolge seines Engagements für Europa und ein belgisches Landeskind erlegen. Zielsetzung, Gestaltung und Inhalt lassen folgern, daß er ebenso wie diejenigen, die die Münzbilder zu verantworten haben, sich über seinen Helden nicht nur zur werdenden europäischen Gemeinschaft bekennen, sondern auch auf deren Wurzeln verweisen wollte. In dieser Absicht haben sie die Erkenntnisgrenzen der Geschichtswissenschaft aus dem Blickfeld verloren, sind zu Aussagen gelangt, auf denen eine problematische Tradition vom Leitbild bis zur Ahnherrschaft aufbauen kann.
Tradition bildet über kurz oder lang jede menschliche Vereinigung, und auch der Historiker steht bewußt oder unreflektiert in Traditionen. Über Tradition selbst ist nicht zu streiten, jedoch über ihre Inhalte können die Meinungen erheblich aufeinanderprallen. Niemand kann der Europäischen Union oder den aktiven Verfechtern der europäischen Einigungsbewegung verübeln, wenn sie sich traditionell auf Vorläufer besinnen. Es geht nicht um den Inhalt der Tradition, sondern um ihr Verhältnis zur Geschichte. Dieser Sachverhalt sei auf eine kurze, aber harte Formel gebracht: Tradition heißt Manipulieren der Vergangenheit, dazu aber darf sich die Historie nicht einspannen lassen. Nichts gegen Manipulation, denn sie kann einem guten Zweck dienen. Vielleicht braucht eine Gemeinschaft ihre Helden. Nur sollte der Historiker sie nicht aussuchen, denn bei derartigen Überlegungen wird eine Tatsache leicht übersehen: Tradition ist Gegenwart. Die Menschen leben heute in der Tradition und suchen das Neue durch Rückgriffe auf die Vergangenheit zu bestätigen. Dabei ist es durchaus möglich, einerseits heutige Leitgedanken oder auch andererseits gegenwärtig fragwürdig erscheinende Ideologien mit ähnlichen oder gleichen einstmals tragfähigen zu legitimieren97. Ebenso kann etwas Antiquiertes heute durchaus opportun erscheinen. Wie dem auch sei – es ist das Heute.
Der Historiker sollte – nach meinem Verständnis von geschichtswissenschaftlicher Arbeit – keinem Menschen, der in einer vergangenen historischen Wirklichkeit gelebt hat, dadurch historische ‚Gerechtigkeit‘ widerfahren lassen wollen, daß er ihn für seine Gegenwart instrumentalisiert, und sei dieses auch im Sinne eines positiv besetzten Leitbildes. Zurückhaltung ist unabhängig davon geboten, ob sich jene Persönlichkeit ihrem Wesen und historischen Wirken nach für eine derartige Funktionszuweisung überhaupt eignet. Der Historiker bleibt der Vergangenheit verpflichtet, er hat aus der kühlen Distanz des Wissenschaftlers zu rechtfertigen oder zu kritisieren, aber er hat sie nicht der Gegenwart unmittelbar dienstbar zu machen. Es ist hier nicht der Platz, sich über den Nutzen der Historie zu äußern. In bezug auf die Tradition läßt sich jedoch – wenn auch etwas pontiert – behaupten, es ist die Aufgabe des Historikers, ihr dauernd zu widersprechen. Bei einer Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Tradition wird die Tradition nur ihrer ehrlichen Naivität beraubt, die Historie dagegen pervertiert.
[Weiterlesen >> vollständiger Text mit Fußnoten im pdf-Format / neuer Tab >>]