Prof. em. Dr. Rainer Wohlfeil:
Entfremdung und Annäherung.
Krise und Krisenbewältigung im Zeitalter von Reformation und Bauernkrieg, gespiegelt in Stationen deutsch-deutscher Diskussionen
zur Deutung deutscher Geschichte des 16. Jahrhunderts.
Stationen deutsch-deutscher Diskussionen im Bereich der Geschichtswissenschaft hat 1989 Winfried Schulze dargestellt1. Seine zentrale Fragestellung bedingte eine Beschränkung auf das Wesentliche und läßt die Entwicklung seit der Gründung der ‚Deutschen Historiker-Gesellschaft‘ in der DDR nach 1958 mit der Entfremdung und nachfolgenden Abschottung seitens der DDR-Geschichtswissenschaft ausklingen2. Daß es aber in den Jahren zwischen den Historikertagen zu Bremen (1953) und Trier (1958) mehr Bereitschaft gegeben hat, der Entfremdung durch deutsch-deutsche Historikergespräche zu begegnen, als von Schulze aufgezeigt wird, soll im ersten Teil dieses Beitrages dem Vergessen entrissen werden3; in einem zweiten wird ein Bemühen reflektiert, im Vorzeichen der Entfremdung zu einer Annäherung zu gelangen. Es war geprägt von dem Versuch, auch in Zeiten gesellschaftlichen Widerspruchs im Westen und politischer Abschottung im Osten Deutschlands geschichtswissenschaftliche Diskussionen zu führen. Sie wurden von westdeutscher Seite mit der unverzichtbaren wissenschaftlichen Grundforderung nach Theorien- und Methodenpluralismus aufgenommen, an der als Basis stets unabdingbar festgehalten worden ist, auf Seiten der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft im Verständnis von der Unvereinbarkeit des dialektisch-historischen Materialismus mit anderen geschichtstheoretischen Ansätzen – ein Sachverhalt, dessen sich westdeutsche Historiker bewußt waren4 . Gemeinsam war die Eingebundenheit der Historiker in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Zeit, und zwar auch dann, wenn sie eine weit zurückliegende soziale Wirklichkeit auf der Grundlage eines bewußt akzeptierten oder sie unreflektiert bestimmenden theoretischen Geschichtsverständnisses zu interpretieren versuchten.
Der Ansatz, den historischen Stellenwert von Reformation und Bauernkrieg über einen geschichtstheoretisch im historischen Materialismus verorteten Entwurf in einer Theorie mit Verbindlichkeitscharakter neu zu bestimmen, der etwa um 1952 in der damaligen DDR einsetzte, hat mit der These von einer frühbürgerlichen Revolution in Deutschland zum „Modellfall einer Forschungskontroverse“5 geführt, die nicht ‚zu den Akten gelegt‘ werden darf. Sie behält ihren Wert sowohl im Sinne eines ‚Lehrbeispiels‘ für Formen geschichtswissenschaftlicher Diskussionen im Spannungsfeld der Kategorie ‚Theorien- und Methodenpluralismus‘ als auch im Verständnis eines weiterhin herausfordernden Erklärungsmodells. Dieses werde – so meine These von 1986/1990 – „weiterhin Gegenstand kritischer Diskussion und von ‚Fragen‘ bleiben, ‚die schon lange im Gespräch, aber durchaus nicht erledigt sind‘6 – ein geschichtswissenschaftlich legitimer und zugleich allseitig erkenntnisfördernder Vorgang“7 und eine These, die weiterhin gilt.
I
Anfang Mai 1956 diskutierte in Berlin Hans Kallenbach, Studienleiter an der Evangelischen Akademie in Hessen und Nassau, mit Professor Alfred Meusel, Historiker in Ost-Berlin8, das Projekt der Tagung eines kleinen Kreises von Historikern, Philosophen und Theologen aus beiden deutschen Staaten in der Akademie zu Arnoldshain9. Die Anregung war aus der DDR erfolgt und an Kallenbach während einer Tagung in seiner Akademie über Dr. John, einen Mitarbeiter des 1952 in Ost-Berlin neu gegründeten Verlages Rütten & Loening, herangetragen worden, der dann das Berliner Gespräch vermittelt hatte10. Als Kolloquiumsstoff hatte Kallenbach ‚Die Universitäten des 16. Jahrhunderts‘ vorgeschlagen. Dieses Thema dürfte [ … ]
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