Edition Trudl Wohlfeil

 



DER MAULBEERBAUM

Trudl Wohlfeil: der Maulbeerbaum von Nea Styra, 2005


An Vasso zum Tode von Thodoris Vlachodimitris 29. 7. 2005

von Trudl Wohlfeil, 7. 8. 2005




DER MAULBEERBAUM


An Styra's Gestaden steht er,
Aufrecht und vielverzweigt.
Wachsend, blühend, strebt er zum Himmel,
Breitet aus und wölbt seine Äste,
Gibt Schatten und Früchte und Leben.

Nahe dem Meer senkt er tief
Seine Wurzeln in feuchte Erde
Und wachsend gedeiht er,
Ein prächtiges Bild
Vor der kühnen Kulisse der Berge.

Fest steht sein Stamm
Und wohlgeformte Zweige
Umragen sein Holz.
Kraftvoll trotzt er
Den Stürmen des Lebens.

Trotzend den Wintern und Winden,
Verliert er Geäst im Laufe der Zeit.
Und der Mensch legt Hand an
Mit eisernen Sägen und Zähnen.
Entkommt er dem Winter,
Glüht höllisch der Sommer.
Zu nahe steht er dem Ufer.
Meer und Mensch verändern den Strand.

Kein Tag gleicht dem andern:
Ein ständiger Kampf
Um Leben und Sterben.
Er widersteht den Gefahren,
Gewalten von außen und innen.
Er will überleben.

Der Frühling gibt Saft ihm
Und neues Leben
Er wächst in Zweigen und Blättern.
Fruchtbringend vergehen die Jahre.

Im Herbst seines Lebens
Ragt er blattlos am Ufer.
Weder Schatten noch Beeren
Vermag er zu spenden:
Den Menschen dienen die Äste
Als Haken für Netze und Kleider.

Fest steht er noch immer.
Tief verwurzelt erreichen
Ihn Stürme und Wellen.
Er neigt seinen Stamm
Der untergehenden Sonne entgegen.
Was bleibt ist die Hoffnung.

Es nützt keine Kraft mehr.
Zum Aufbäumen fehlt
Ihm am Ende die gütige Erde.
Salz und Meer sind nicht seine Retter.
Der Sonne Abendglut hüllt ihn
Zuletzt nur noch in Schönheit.

Über den Inseln vergolden
Sich Himmel und Meer,
Wenn des Tages Stunden zu Ende.
Romantisch verklärt
Und ohne grünendes Blatt,
Ragt stumm der traurigen Äste
Gestrüpp ins gleißende Licht
Der untergehenden Sonne.

Wie kann, wie wird er wohl sterben?
Wie lange noch dauert das Ende?
Kein Sturm vermag
An seinen Wurzeln zu rütteln.
Zu fest ist er der Erde verwachsen.

Doch von heute auf morgen
Geschieht, befremdlich für alle,
Was nie dem Baum in die Wiege gelegt war.
Von Menschenhand zersägt,
beginnt sein endloses Sterben.
Es rattern die Zahnräder der Zeit.

Ein letztes Mal zeigt er,
Dass gutgewachsen sein Stamm war:
Das Holz ist noch grün.
Es widersetzt sich dem heulenden Motor.

Er weicht den Wünschen der Menschen.
Platz brauchen sie,
Und schnurgerade Wege.
Wie sonst läuft
Die Maschine des Fortschritts?

Wer siegt, steht in den Sternen.
Sie funkeln vom schwarzen
Himmelsgewölbe.

Der Maulbeerbaum stirbt.
Seine Wurzeln nährt weiter das Meer.
Und die Erde.
Salz und Bitterkeit bleiben.

Wellen umspülen
Den sterbenden Strunk.
Abendwind fächelt wohlige Ruhe.

Ist der Baum tot?
Sein Bild lebt fort.
Seine Früchte zerstreute der Wind
In alle Winkel der Erde.

Wo mögen sie sprießen?
Wer wird sie erkennen?
..................................
Es lebe der Maulbeerbaum.






NACHWORT

DER MAULBEERBAUM VON NEA STYRA

Trudl Wohlfeil


Einem Wunder gleich
Säumen heute den Strand
Und die weite Bucht von Styra
Junge großblättrige Maulbeerbäume.
Weit mehr Wurzeln,
Als je ein Mensch sich erdacht hat,
Werden sich breiten
Vor der bergigen Welt von Attika:
Nachkommen des Maulbeerbaumes.
Schatten und Früchte werden sie spenden.
Wenn die Menschen verstehen,
Werden sie des alten Baumes gedenken?







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